Die gewählte Alternative

“Eine Elite-Einheit der NVA rüstet ab” Die gewählte Alternative

Gemeinsam mit unseren engsten Freunden verbrachten wir den Wahltag. Nicht in feucht-fröhlicher Runde, sondern auf einer Baustelle. Ich gehörte zwar keiner Partei mehr an, nahm aber mein staatsbürgerliches Recht wahr. Irgendwie verlief dieser Wahltag anders, ruhiger. Die Sonne schien. Wir schliefen aus, niemand hielt uns an, so früh wie möglich zu wählen.

Was früher verordneter Kling-Klang-Gloria erreichte, schuf nun der Wirbel um die Einheit Deutschlands. Wie sich das Schicksal der Soldaten der NVA weiter gestalten könnte, blieb im Dunkeln und wurde auch nie wieder beleuchtet.

Wie schon erwähnt, halfen wir unseren Freunden an diesem Tag beim Bau ihres Wochenendhäuschens. Zwischenberichte und natürlich das erste inoffizielle Ergebnis des Wahltages erfuhren wir aus dem Kofferradio.

Die Allianzparteien, die SPD und die Liberalen hatten drei Viertel der Stimmen errungen, die PDS war isoliert, die Einheit unausweichlich. »Wohlstand für alle! Nie wieder Sozialismus!« – so klang es aus Radio und Fernsehen, so stand es auf Plakaten und in den Gazetten.

Die Nachwendegeschichte unserer Freunde, mit denen wir diesen 18. März auf ihrer Baustelle bei gemeinschaftlicher Arbeit verbrachten, passt recht gut in dieses Kapitel.

Sie war damals eine engagierte, beliebte und erfolgreiche Lehrerin, er, genauso wie ich, Fregattenkapitän. Jahrelang fuhr er zur See. Unsere Wege kreuzten sich erstmalig an der Akademie. Dort lernten und lebten wir nicht nur zusammen, sondern fuhren wöchentlich gemeinsam von der Küste bis in die Elbmetropole und zurück. Er war schon damals kontaktfreudig und geschäftstüchtig. Nach Abschluss der Akademie versetzte man ihn zu den Rückwärtigen Diensten des KVM und dort erfüllte er seine Pflichten nicht schlecht.

Mit der Wende zog er Anfang 1990 schlagartig seine Uniform aus und ging, gestützt durch verwandtschaftliche Beziehungen und durch finanzielle Starthilfen aus München, in die Touristikbranche. Doch sein älterer westdeutscher Partner hatte über die Geschäfte in  Mecklenburg-Vorpommern wohl andere Vorstellungen als er. Mein Freund und ein ehemaliger Kapitänleutnant, ein fähiger Finanzökonom im KVM, schlossen sich zu einer neuen Gesellschaft zusammen. Diese kaufte von der Volksmarine einen schwimmenden Stützpunkt vom Typ 62.0 wie er für die dezentralisierte schwimmende Sicherstellung der Schnellbootkräfte genutzt wurde und eine sehr gut erhaltene Barkasse des KVM. Ein Hotelschiff sollte entstehen. Zuschüsse holten sich die beiden von der Stadt Rostock, vom Land und anderen Förderern der regionalen Entwicklung des Fremdenverkehrs. Und sie nahmen hohe Kredite auf. Sie arbeiteten mit neuen Geschäftspartnern aus Bremen zusammen. Es begann ein reger Verkauf und Ankauf von Schiffen. Werftliegezeiten mussten bezahlt werden. So gehörte bald die MS »Deutschland«, ein ausrangiertes Fahrgastschiff aus Bremen, der Rostocker Reise- und Touristikgesellschaft.

Alles schien den erwarteten Weg zu gehen. Doch die notwendigen Reparaturen erforderten enorme menschliche und finanzielle Belastungen. Da ich weiß, welche Schwierigkeiten er und seine Mitstreiter zu meistern hatten, auf welche katastrophalen Zustände er als Jungunternehmer in den neuen Bundesländern stieß, bewunderte ich diesen mutigen Schritt zweier ehemaliger Marineoffiziere.

Aber der Preis, den meine Freunde dafür bezahlen mussten, war zu hoch. Die finanziellen Verstrickungen erfassten die gesamte Familie, der erwartete Tourismus-Boom setzte in Mecklenburg-Vorpommern nicht ein. Das Unternehmen kam in arge Bedrängnis, die Ehe unserer Freunde ging in die Brüche. Gewinner waren die Geldgeber.

In der letzten Zeit verloren wir uns aus den Augen.

Dann sah ich ein Foto in der »SUPERILLU«, Ausgabe Nr. 37/93. Mein Freund übergab einen Scheck in Höhe von DM 3.672 an eine seiner ehemaligen Mitarbeiterinnen. Es ging nicht um einen wohltätigen Zweck, sie empfing ihre letzten drei Monatsgehälter, die der Jungunternehmer seiner Angestellten nicht gezahlt hatte. Das bunte Wochenblatt hatte sich für die Interessen der betrogenen Frau eingesetzt und selbst daran verdient. Er tat mir leid, denn ich weiß, was für ein echter und guter Freund er war.

Der Ausverkauf

Wir Soldaten wollten beim Erneuerungsprozeß im Sinne unseres Friedensauftrages nicht abseits stehen. Doch für den eigenständigen Fortbestand der DDR gab es zu dieser Zeit keine Chance mehr.

Der politische Machtwechsel war vollzogen. Es war Frühling, die großen Unternehmen und Konzerne schmierten mit allen Mittel die neuen Verteilungswege für ihre Waren. LKWs rollten auf freie Plätze in den Großstädten, fußgängerberuhigte Straßenabschnitte oder auf Parkplätze und verkauften Waren zu Dumpingpreisen. Mitten auf der Kröpeliner Straße in Rostock verhökerten Marktschreier von LKWs kartonweise Milka-Schokolade für 10 Ostmark. Die Menschen griffen wie besessen zu.

Nach der Währungsunion lief dann alles in vorbereiteten und somit geregelteren Bahnen. Die DDR veräußerte sich selbst, indem sie alles zu Preisen verkaufte, bei denen jeder Unternehmer bankrott gegangen wäre. Für den Fall, dass ich eines Tages die Uniform ausziehen müsste, deckte ich mich mit Anzügen ein. Ich kaufte im Exquisit drei Markenanzüge, zwei Ledergürtel, einen hochwertigen Herrenpullover und zahlte 720 DM. Zwei Paar Schuhe zu je 59 DM, das war der blanke Ausverkauf der DDR.

Vorerst zog ich aber weiter meine Uniform an und hielt mich an das alte Sprichwort, »Schuster bleib’ bei deinen Leisten« – auch wenn das Leder bald ausgeht, setzte ich hinzu.

Im Feldlager

Im Küstenraketenregiment begannen wir zur Frühlingszeit in der schönen Rostocker Heide mit der Ausbildung. Wir formierten die Kampfeinheiten um. Aus den Resten zweier personell recht stark ausgedünnter Abteilungen entstand eine aufgefüllte Einheit. Gemäß Stellenplan besetzten wir alle Dienstposten. Diese Abteilung führte Fregattenkapitän Dommigalle an. Die zweite Einheit entstand aus allen zur Verfügung stehenden Berufssoldaten. Diese Soldaten begannen mit ihrer Ausbildung in ihren Zweitfunktionen. Es entstand ein Wetteifern zwischen einer voll ausgerüsteten und aufgefüllten 1. KRA und den »Senioren«, den Berufsunteroffizieren und Offizieren. Die alten, erfahrenen Hasen aus der ehemaligen 2. KRA wollten gemeinsam mit den lern- und arbeitswilligen »Zweitverwendern« schnell beweisen, wer der Bessere im Regiment sei. In dieser Situation, die ich ständig versuchte, in richtigen Bahnen zu halten, ergänzt durch einen kleinen materiellen Anreiz, konnte ich Höchstleistungen fordern. Dazu kam noch, dass der Pegel an äußeren Störfaktoren so gut wie gegen Null sank. Wir konnten ständig Nutzen und Aufwand abwägen. Warum gelang so etwas früher in Politik, Wirtschaft, Ideologie und beim Militär nicht?

Das hört sich so an, als ob wir in unserem Regiment als Traumtänzer agierten und die politische Entwicklung verschliefen. So ist es nicht. Wir wussten, dass unsere Chancen minimal waren, aber wir gaben uns nicht auf, sondern versuchten mit jedem Tag, Neues zu erlernen und vor allem andere Wege zu beschreiten. Wir nutzten die neuen Möglichkeiten und das machte unsere Arbeit interessanter und abwechslungsreicher.

Mancher, der diese letzte Schule durchlief, bereitete sich, wenn auch zu diesem Zeitpunkt noch unbewusst, recht gut auf das neue Leben vor.

Die beiden personell geschwächten raketentechnischen Batterien legten wir ebenfalls zusammen. So konzentrierte sich der gesamte Dienstbetrieb, die Organisation des Regiments auf die wichtigsten Aufgaben, Abläufe und Prozesse. Durch Umstrukturierung, Straffung und Konzentration bei annähernd störungsfreiem Tagesdienst erreichten wir erstaunliche Leistungen in relativ kurzer Zeit. Doch ich wollte keine Eintagsfliegen, sondern wiederholbare gute Ergebnisse. Deshalb befahl ich die 1. KRA zur weiteren Gefechtsausbildung in das Feldlager nach Zingst, um dort alle typischen Gefechtshandlungen einer KRA trainieren zu lassen. Höhepunkt und Abschluss dieses Feldlagers sollte die Abteilungsgefechtsübung (AGÜ) der 1. KRA sein, die ich mit meinem Stab abnehmen wollte. Der Stabschef und der Stellvertreter für Ausbildung entwarfen die notwendigen Aufgaben und Ausbildungsziele, legten die wichtigsten Eckpunkte und Termine fest, formulierten die notwendigen Vorbefehle und führten die Absprachen mit dem KVM.

Zu diesem Zeitpunkt mussten wir auch noch den Gefechtsdienst sicherstellen, wenn auch in etwas gelockerter Form. Das stimmte ich natürlich mit dem Kommando ab. In Abhängigkeit der befohlenen Lage hätten wir verschußklare Raketen zu einem festzulegenden Punkt gebracht und sie an die Gefechtseinheit übergeben. Diese hätten dann von dort zu jeder beliebigen vermessenen Startstellung gefahren werden können.

Wir hingen mit dem Gefechtsdienst durchaus nicht an einem Feindbild, sondern wir nahmen unseren Auftrag ernst, so wie unser potentieller Gegner gegenüber seinem Auftraggeber. Die NVA hatte wie die Bundeswehr immer einen Verfassungsauftrag, auch wenn der bei uns militärischer Klassenauftrag hieß.

Vor Beginn der Übung erließ ich, nach der Beratung im Kreise aller Stellvertreter, einen Gefechtsbefehl an den Kommandeur der 1. KRA. Nach Übergabe des Dokuments bereitete sich dieser mit seinem Abteilungsstab auf die Erfüllung des Auftrages vor und meldete dann seinen Entschluss. Das war das normale militärische Procedere, wie es eh und je ablief. Ich bestätigte den Entschluss und die gesamte Abteilung bereitete sich auf das zweiwöchige Feldlager vor.

Mit großer Betriebsamkeit vergingen nicht nur für die 1. KRA die folgenden Tage. Auch die Nachrichteneinheit, die Einheiten der Rückwärtigen und Spezialtechnischen Dienste bereiteten sich auf dieses Ereignis vor. Die Sicherstellungseinheiten gehörten zwar nie zu den Hauptdarstellern, sie mussten aber immer dabei sein. Gute Kommandeure wussten, was sie an ihren Gefechtssicherstellungs-, Spezialtechnischen und Rückwärtigen Diensten hatten und brachten dies auch immer zum Ausdruck.

Zu diesem Zeitpunkt wusste keiner, dass es das letzte Feldlager der Küstenraketenkräfte der Volksmarine sein würde. Sehr wenige, wenn überhaupt noch ein anderer Truppenteil, konnten mit einem derartig dezimierten Personal einen hohen Gefechtswert demonstrieren und diesen auch unter diesen Bedingungen effektiv trainieren. Die schwimmenden Einheiten hatten nur eine Chance, ähnliches zu erreichen, indem sie eine Vielzahl von ihren Schiffen und Booten an der Pier festmachten und umfangreiche Wartungsarbeiten durchführten. Natürlich konzentrierten sich diese Truppenteile und Verbände auch auf die wichtigsten Ausbildungsaufgaben, genauso, wie wir es taten. Natürlich ist es viel komplizierter, ein Schiff zur See fahren und zielgerichtet Ausbildung durchführen zu lassen als eine Übung bei den Küstenraketenkräften zu gewährleisten.

Wir machten uns aber auch nicht psychisch kaputt, indem wir in endlosen Diskussionen versuchten, auf Fragen zu antworten, die wir sowieso nicht beantworten konnten. Immer wenn meine Stellvertreter oder Oberoffiziere aus dem KVM in den Truppenteil zurückkamen, schüttelten sie nur den Kopf und fragten sich, ob man im Kommando nicht andere Sorgen hätte, als Kaffee zu trinken und dabei eine  Was-wäre-wenn-Diskussion nach der anderen zu entfachen.

Ich konnte diesen Offizieren des KVM, die ich in den meisten Fällen mehr oder weniger gut kannte, keinen Vorwurf machen. Sie waren in der Regel auf sich allein gestellt, verfügten über keine Unterstellten wie die Truppenoffiziere und hinter ihren Aufgaben standen viele Fragezeichen. Diesen Soldaten blieb nichts anderes übrig, als sich gegenseitig Mut zuzureden oder den eigenen Ausstieg aus den Streitkräften vorzubereiten. Viele bildeten sich am Computer weiter, nahmen an Kursen und Lehrgängen teil.

In der Vergangenheit überprüfte der Chef der Volksmarine nach einer feldmäßigen Ausbildung das gesamte Regiment. Das fiel diesmal aus, denn es standen existentiellere Fragen auf der Tagesordnung als Kampfkraft und Gefechtsbereitschaft.

Die Führung der Volksmarine war also auf der einen Seite recht froh, dass sich das KRR-18 in seinem Metier beschäftigte und keine Probleme und Vorkommnisse produzierte wie leider viele andere Dienststellen der NVA, andererseits wussten sie genauer als wir um die Vergeblichkeit unserer Bemühungen.

Trotzdem setzte ich für die Übung Schwerpunkte: Herstellung der Geschlossenheit der Einheit, die sich aus den Resten beider Küstenraketenabteilungen rekrutierte, sowie die Absolvierung aller typischen Gefechtsübungen einer KRA.

Alle Angehörigen der Abteilung setzten ihre ganze Kraft ein. Es gab kein Murren, keine Proteste. Fregattenkapitän Domigalle führte seine Einheit sehr gut. Die 1. KRA verlegte im vollen Bestand ohne Gefechtsraketen am 10. März 1990 auf die Halbinsel Zingst, wo sich der Truppenübungsplatz für das Artillerieschießen befand.

Es war in der DDR üblich, dass Einheiten und Truppenteile der NVA durch das Land, durch Städte und Dörfer marschierten. Zwei bis dreimal im Jahr verlegten auch wir auf den Bug (Rügen). Zwangsläufig passierten wir die Stadt Stralsund. Die Menschen verhielten sich auch in den Zeiten des Umbruchs ganz normal gegenüber ihren Soldaten. Ich hörte keine Beschwerden oder Klagen. Die Kinder bestaunten die gewaltige Technik. Da, wo es sich anbot, mieden wir natürlich Ballungszentren, aber da, wo kein Weg vorbei ging, mussten wir eben durch. Keine leichte Aufgabe für die Kraftfahrer, die kleinen und großen Fahrzeuge unfallfrei durch den Straßenverkehr zu manövrieren.

Mit dem Feldlager verband ich eine ganz bestimmte Absicht. Gemeinsam mit dem ehemaligen Kommandeur des KRR-18, Dr. Dix, wollte ich, wenn eines Tages Strukturfragen einer künftigen ostdeutschen Marine auf der Tagesordnung stehen würden, dass die Vorteile unserer Waffengattung zu unseren Gunsten eingebracht würden. Deshalb hatte ich Vizeadmiral Born als Chef der Volksmarine schon bei der feierlichen Übernahme des Regiments zu unserer Übung eingeladen. Zwar kannte er die Küstenraketentruppen, ihm fehlten aber Details und das direkte Erleben vor Ort mit allen Gefechtsmöglichkeiten. Das wollten wir ihm demonstrieren. Diese Zielstellung stand in keinem Entschluss, aber alle Verantwortlichen im Regiment kannten sie genau.

Neben dem Feldlager der 1. KRA existierte noch ein zweites Feldlager, ebenfalls auf dem Darß, aber reichlich vierzig Kilometer südwestlich von Zingst. Auf dem Gelände der Funkmeßbeobachtungsstelle Wustrow trainierte unter Leitung des Kommandeurs der 2. KRA, Fregattenkapitän Schwarz, die »Seniorengarde«. Dort erlernte der Oberoffizier für Organisation/Auffüllung das Handwerk eines Funkmeßmaates, der Kommandant der Startrampe 211 erfüllte die Aufgabe des Raketenwaffenleitmaates, der Oberoffizier für Finanzen startete die Turbine der Startrampe 221 und fuhr zuvor die Startrampe in die vermessene Startstellung. Die restlichen Stabsoffiziere der 2. KRA fuchsten sich in die Bedienung von Funk- und Chiffriergeräten, ihrer eigenen Führungstechnik ein.

Natürlich ging bei den langgedienten Berufssoldaten die Ausbildung etwas gelassener vor sich. Sie übten aber genauso angestrengt wie ihre jüngeren Kameraden aus der 1. KRA.

Auch im Stammobjekt lief die Ausbildung der Ersatzrampenfahrer mit den verbliebenen Berufssoldaten auf Hochtouren. Hier engagierten sich besonders die Stellvertreter für Technik und Raketenbewaffnung. Die anderen Einheiten warteten die Raketen und Kraftfahrzeuge. Kein leichtes Unterfangen bei dem dezimierten Personalbestand. Gerade die Raketentechnische Kompanie erhielt gemäß dem Plan des Zusammenwirkens mit der 1. KRA die Aufgabe, mit der mobilen Regeltechnik für eine gewisse Zeit in das Feldlager der 1. KRA nach Zingst zu verlegen und dort Episoden der Sicherstellung der Abteilung mit Raketen durchzuführen. Wir bildeten also komplex aus mit einem um mehr als die Hälfte reduzierten Personalbestand.

Die kurzen Berichte über Verlauf und vorläufige Ergebnisse lasen sich durchweg positiv. In dieser Situation schlug ich meinen Stellvertretern vor, die im Feldlager stationierten Soldaten zu überraschen. Ich ließ bei den Ehefrauen und Freundinnen fragen, ob sie bereit wären, am Sonntagnachmittag mit Kind und Kegel sowie einer riesigen Portion Kuchen ihre Männer zu besuchen. Die Sonntagsüberraschung gelang. Auch die Kinder freuten sich, für eine kurze Zeit bei den Vätern zu sein und mit einer Startrampe mitzufahren. Solche Familien- und wehrdienstfördernden Veranstaltungen waren nicht erst seit der Wende möglich, andere Kommandeure organisierten Ähnliches schon zu DDR-Zeiten.

Der Dienst hatte uns am Montag flugs wieder, und nun galt es, den Besuch des Chefs der VM im Feldlager vorzubereiten. Wir wollten keine Show inszenieren, denn in dieser Beziehung brauchte man in jenen Tagen keinem Vorgesetzten etwas vorzugaukeln, wie man es sehr oft, besonders bei Besuchen von hohen Vorgesetzten, in der Vergangenheit gemacht hatte. Wir wollten uns nicht nur präsentieren, sondern in erster Linie anschaulich und überzeugend die Möglichkeiten der Küstenraketenkräfte verdeutlichen, um letztlich dem neuen Befehlshaber die qualitativen Vorteile der eigenen Waffengattung auf einem geschlossenen Seekriegsschauplatz gegenüber den Überwasserkräften zu demonstrieren. Admiral Born erkannte recht bald die Zusammenhänge zwischen Quantität und Qualität.

Zuerst besuchte Vizeadmiral Born in Begleitung von Kapitän Dix die Berufssoldaten im Objekt Wustrow. Er unterhielt sich mit fast allen Offizieren und Berufssoldaten. Ich spürte ein wachsendes Vertrauensverhältnis zu meinen Soldaten. Viele Offiziere fuhren wie er zur See, da findet man schnell eine gemeinsame Sprache.

Eine ähnliche Atmosphäre erlebte ich in Zingst bei der 1. KRA. Diese demonstrierte wichtige Gefechtshandlungen, und Born suchte sofort das Gespräch mit allen Dienstgradgruppen. Er spürte den in vielen Jahren gewachsenen Stolz der Truppe auf ihre Waffengattung. Selbst als ein Maat seinen Unwillen ausdrückte, dass beim Zusammenbau der Stangen für das Tarngestell seiner Startrampe wieder mal nichts passte, trübte nicht das Bild. Früher wäre das für den Kommandeur sehr peinlich gewesen.

Dieser Besuch rettete natürlich nicht die Küstenraketenkräfte der Volksmarine, aber ich spürte seit diesem Zeitpunkt ein größeres Verständnis für unsere Truppe. Heute überlege ich, ob es nicht sinnlos war, kurz vor dem Zusammenbruch der DDR den Schutz dieses Staates in Vollendung zu trainieren. Ich konnte nicht anders. Und welche anderen Chancen hatten wir denn noch?

Die Abteilungsgefechtsübung nahm ich zum Abschluss der feldmäßigen Ausbildung am 28. und 29. März 1990 ab. Sie zog sich über 24 Stunden hin. Neben den Kontrolleuren und Abnehmern agierten Darstellungskräfte, in erster Linie Fühlungshalter und Zielobjekte. Als Fühlungshalter fungierte ein Hochseeminenabwehrschiff der Sicherungsabteilung der 4. Flottille, die Technische Beobachtungskompanie (TBK) Darßer Ort, das Raketenschnellboot »Josef Schares« sowie eine MI-8 BT, die auf Abfrage die notwendigen Peilungen und Distanzen zum Zielobjekt chiffriert übermittelte und nach welchen die Küstenraketenbatterien ihre Schläge anbrachten.

Auch Standardeinlagen mit realistischem Hintergrund kontrollierte ich. Übungseinlagen, wie Personenausfall auf dem Führungspunkt, Ausfälle und Störungen an der Gefechts- und Sicherstellungstechnik wurden überprüft, um genau einzuschätzen, ob die Überprüfenden richtige und zweckmäßige Entschlüsse fassten.

Zur Abnahme besuchte uns ein Vertreter der Abteilung Ausbildung des KVM. Klaus Richter, ein alter Bekannter, kümmerte sich schon jahrelang um die Ausbildung im KRR-18. Er schätzte die willkommene Abwechslung, aus dem Kommando der Volksmarine herauszukommen und Einheiten bei der Gefechtsausbildung zu sehen. Als Endergebnis stand die Note »Sehr gut«. Gewiss keine Schönfärberei.

Das Feldlager mit all seinen vielfältigen Maßnahmen ergab eine neue Qualität im KRR-18. Personalprobleme lösten früher fast immer vorgesetzte Stellen. Heute ließen wir uns selbst etwas einfallen, um mit der Hälfte des Personals die gleichen, wenn nicht sogar noch mehr Aufgaben zu erfüllen. Trotz dieser positiven Ergebnisse gab es noch einiges zu tun. Noch saßen nicht alle Handgriffe, wie es sein musste. Es bedurfte noch vieler Wochen Ausbildung, dass alle festgelegten Neubesetzungen ihre Funktion voll erfüllten.

An einem schönen, sonnigen Spätnachmittag nahm ich einen Kolonnenmarsch mit den neu ausgebildeten Startrampenfahrern ab. Die Strecke führte von Schwarzenpfost nach Rostock, dann die Autobahn entlang bis nach Abzweig Laage und über die Dörfer zurück. Sechs SSR sausten, aufgefädelt wie auf einer Perlenschnur, mit genauem Abstand und korrekter Signalgebung mit 70 Stundenkilometern über die Autobahn Richtung Berlin. Ich war stolz auf meine Männer, auf deren Technik, die nicht irgendwie vor sich hinrostete.

Die Menschen in den Städten und Dörfern, die unsere Ausbildungsfahrten bewusst beobachteten oder unbewusst wahrnahmen, erlebten genau das Gegenteil von dem, was sie in der »Aktuellen Kamera« über die Selbstauflösung der NVA sahen. Niemand kam auf den Gedanken, sich vor die Fahrzeuge zu werfen oder pazifistische Losungen an die Technik oder an Gebäude zu schmieren.

Vieles schien äußerlich noch normal, doch innen bröckelte es unaufhaltsam. Dazu trug auch die freie Berichterstattung der DDR-Medien bei. Selbst westliche Journalisten zeigten sich fair und sachlich, die eigenen Medien verhielten sich aber gegenüber der NVA sehr bedeckt oder warfen sie einfach in die Mottenkiste der DDR-Geschichte. So wurde vieles beschleunigt und vor allem unter den Tisch gekehrt; dies stellte sich bald für viele Armeeangehörige als eine bittere persönliche Entwicklung heraus.

Der März 1990 brachte für die DDR Entscheidendes und Neues. Die Regierungsbildung in der Noch-DDR stand auf der Tagesordnung. Auch ein neuer Verteidigungsminister musste ernannt werden. Uns interessierte nicht, wer es sein würde, Hauptsache: Er setzt sich für die Interessen der Soldaten und Zivilbeschäftigten der NVA ein und ist kein Westimport. Am 9. April stellte Ministerpräsident Lothar de Maizière die neue Regierung vor. Als Minister für Abrüstung und Verteidigung fungierte Rainer Eppelmann vom Demokratischen Aufbruch, Admiral Theodor Hoffmann wurde Chef der NVA, ein neu geschaffener Posten.

Der Zusatz »Abrüstung« für seinen Ministerbereich und seine soziale Herkunft als Pfarrer verhieß rein militärisch nichts Positives. Der generelle Fahrplan stand damit wohl fest, auch wenn Herr Eppelmann persönliche Vorstellungen über den Fortbestand und einschneidende Reduzierungen der NVA in der Folgezeit einbrachte. Die Masse der Berufssoldaten blieb nach dem 18. März 1990 auch ihrem neuen Dienstherren, der frei gewählten neuen Regierung der DDR loyal. Ich sah das auch so.

In der früheren DDR gaben die Arbeiter und die Bauern mir das, womit ich meine Pflicht erfüllen konnte, Partei und Regierung waren die Auftraggeber. Und wir hatten Freunde im Osten. Jeder, der sich mit Gewalt gegen uns gewandt hätte, hätte die Macht unserer NVA und des Bündnisses gespürt. So dachten alle, mit denen ich zwanzig Jahre diente.

Heute denunzieren manche Politiker und Publizisten die NVA als offensives Element der Warschauer Vertragsorganisation. Diese Verteufelung fügt sich logisch in das entworfene Bild eines totalitären SED-Regimes ein. Im Grunde bewahrheitet sich nun der von der herrschenden Ideologie in der DDR geprägte Gedanke: »Bürgerliche oder proletarische Ideologie – ein Mittelding gibt es nicht.« Genau das ist heute praktizierte Politik im freien und demokratischen Deutschland. In diesen Rahmen passt auch der Wandel mancher DDR-Oppositioneller, die im Schatten der Vereinigung ihre großen Ideale ablegten oder ablegen mussten und sich zu Erfüllungsgehilfen der etablierten Westparteien entwickelten.

Unser neuer Minister, nun für Abrüstung und Verteidigung, ging einen solchen Weg. Und das im Zeitraffertempo. Fünf Jahre später schrieb die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« am 28. Oktober 1995: »Der CDU-Abgeordnete und frühere Abrüstungs- und Verteidigungsminister der DDR, Eppelmann, bekannte sich dazu, ein Befürworter der Bundeswehr und der NATO-Mitgliedschaft geworden zu sein. Heute sei ihm klar, dass es ohne die NATO und die Bundeswehr kein demokratisches und vereintes Deutschland gäbe. Die Integration der ehemaligen Soldaten der NVA in die Bundeswehr sei beispielhaft gelungen.«

So kann man sich wenden, vom Pazifisten zum Verteidigungsminister und schließlich zum Erfüllungsgehilfen der Bundeswehr und der NATO. So oft und so radikal haben wir uns als Soldaten nie gewendet. Wir mussten uns aber, zwangsweise mit dem Verlassen der Armee, den neuen Bedingungen anpassen.

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