Der Niedergang im Frieden

“Eine Elite-Einheit der NVA rüstet ab” Der Niedergang im Frieden

Noch während des Treffens zwischen Honecker und Gorbatschow anlässlich des 40. Jahrestages drängte der KPdSU-Generalsekretär auf Reformen in der DDR. Er rechnete wohl nicht mit der Starrköpfigkeit Honeckers und seiner Greisengarde. Veränderungen blieben aus. In vielen Städten der DDR forderten Bürger Meinungsfreiheit und Reformen. Die Demonstrationen löste die Staatsmacht teilweise brutal auf. Ein ehemaliger Offizier meines Regiments, der zum 1. September 1989 zum Studium nach Dresden versetzt worden war und den ich zum Regimentssportfest in der Turnhalle Gelbensande wiedersah, berichtete mir von der angespannten Lage in der sächsischen Großstadt. Mein Gesprächspartner wurde mit Schild, Schlagstock und Schutzhelm zur Niederschlagung von Protestaktionen und Demonstrationen eingesetzt. Bestimmt hatte er sich nicht freiwillig gemeldet, aber er fand sich ganz richtig an dieser Front. Da ich auch drei Jahre an dieser Akademie studierte, konnte ich mir vorstellen, wie man die Jungs eingestimmt hatte. Solche Einsätze schienen mir keine Alternative zu einem vernünftigen Dialog zu sein. Erst ab 9. Oktober, als in mehreren Leipziger Kirchen 70.000 Menschen für eine demokratische Erneuerung demonstrierten, griffen die Sicherheitskräfte nicht mehr ein. Beteiligten sich am 16. Oktober schon 120.000 Demonstranten, so gingen am 23. Oktober schon 300.000 Menschen auf die Straße. Sie forderten freie Wahlen und protestierten gegen neue Machtkonzentrationen. Die absolute Unfähigkeit des Partei- und Staatsapparates, darauf angemessen zu reagieren, diskreditierte ihn und machte ihn gesellschaftlich untragbar.

Auch die Entbindung Honeckers von seinen Ämtern am 18. Oktober 1989 und die Wahl von Egon Krenz eine Woche später änderte nichts mehr an der Situation. Die Masse der über zwei Millionen SED-Mitglieder sahen an der Basis keine Chance mehr, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Gelähmt warteten sie auf Entscheidungen von oben, die aber nicht mehr kamen.

In der Armee bot sich folgendes Bild: Die SED verlor auch hier zunehmend an Ansehen und Einfluss, das ging einher mit der Paralysierung jeglicher Parteiarbeit.

Durch die beginnende Demontage der Armee und durch eine zweifelhafte Einsatzplanung entfernten sich die Streitkräfte mehr und mehr von der SED und fühlten sich zunehmend nur noch dem Staat gegenüber loyal.

Der Fall der Mauer wirkte zwar kurzfristig wie die Öffnung eines Notventils für die angestaute Spannung im Herbst 1989, veränderte aber alles.

Die Partei in der Armee

Es gab im Herbst 1989 eine Unmenge von parteilichen Aktivitäten im Regiment, in der Regel von oben angeordnet. Ich gehörte in der Parteigrundorganisation zum Bereich Raketenbewaffnung, einer kleinen Parteizelle. Sie bestand aus neun Mitgliedern. Wir wussten gar nicht, was für Beschlüsse wir in unserer Organisation fassen sollten, damit es mit der gesamten Partei aufwärts ginge. Denn bei uns stimmte eigentlich alles.

Aber je mehr die Medien enthüllten, desto weniger hatten wir eine Chance, in der Öffentlichkeit auch nur einen Blumentopf zu gewinnen. Die Einseitigkeit und Starrköpfigkeit der offiziellen Parteipolitik lähmten unsere Gedanken und bremsten unseren Elan.

Die Distanz zu dieser Politik nahm uns aber nicht alle Ideale von einer vernünftigen sozialistischen Gesellschaft. Wir erfuhren sehr bitter, dass wir über Jahre das Wasser gepredigt bekamen, während einige große Meister die besten Weine verkosteten.

Bedauerlich finde ich heute einen Beschluss, den wir damals fassten. In unserer Grundorganisation gab es einen jungen Obermeister. Er kam mit den Ereignissen dieser Tage nicht mehr klar. Er fühlte, dass mit dieser Partei kein Staat mehr zu machen sei, blieb aber wortlos, als er aus der SED austreten wollte. Ich verstand mich mit dem Zugführer eines Lager- und Transportzuges während der kurzen Zeit unserer Zusammenarbeit recht gut. Der Ausschluss aus der Partei zog die Entlassung aus dem aktiven Wehrdienst nach sich. Hoffentlich nutzte er den großen Zeitvorsprung vor uns, sich im Zivilleben zu etablieren.

Das Parteiaktiv traf sich öfter in dieser Zeit, im Truppenteil und auch im KVM. Wir versuchten massenverbundener und vor allem transparenter zu arbeiten, was natürlich angesichts der alten Kaderbesetzung wenig bewirkte. Wir versuchten auch, Genossen in die Leitungen zu wählen, die das Vertrauen aller Soldaten besaßen. Zu meiner Verwunderung delegierte man auch mich zur Parteiaktivtagung ins KVM, obwohl ich erst ein Jahr im Küstenraketenregiment war. Doch wir bewegten nichts mehr, obwohl wir kämpferisch, selbstkritisch und mit viel Ehrlichkeit diskutierten. Die Partei verlor von Woche zu Woche, von Monat zu Monat an Glaubwürdigkeit. Austritte wirkten auf einmal normal, fast wie etwas Gewünschtes. Im Dezember 1989 bekamen alle Verbände sowie alle dem KVM direkt unterstellten Truppenteile und Einheiten ein Fernschreiben über den offiziellen Austritt des Chefs der Volksmarine aus der SED. Es war ein klares, wenn auch spätes Bekenntnis des Vizeadmirals Born zu einer Politik, deren Stern im Untergang begriffen war. Ich vermutete, dass ihm diese Entscheidung nicht wenig Überwindung gekostet hatte, bestimmt verlor er damit auch eine Reihe guter Freunde.

Ich selbst gehörte zu dieser Zeit 17 Jahre zur SED. Mit der Auskopplung der Partei aus den Streitkräften im Dezember 1989 bekam ich am 8. Januar 1990 meine Ummeldung, um mich im Wohngebiet Rostock bei der Nachfolgepartei, der PDS, anzumelden. Parteidokument und Bescheinigung liegen heute noch als Andenken in meinem Schrank. Kein Verständnis hatte ich für Kameraden und Vorgesetzte, die nach offizieller SED-Austrittserklärung sofort in eine andere Partei eintraten. Ich zähle sie zu den Opfern der vielen politischen Verwirrungen dieser Tage. Es waren nicht viele.

Das wohl weltweit bewegendste und historisch einzigartige Ereignis der friedlichen Nachkriegsgeschichte in Europa war die Öffnung der Grenze. Ich erfuhr davon durch das Fernsehen am Abend des 9. November 1989. Ich kannte natürlich nicht die heute bekannten Zusammenhänge, wie es zur Grenzöffnung gekommen war. Die echte und offene Freude von Millionen DDR-Bürgern empfand ich nicht. Für mich stand fest: Das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik ist damit besiegelt. Meine erste Frage: Was wird mit meinem Job?

Meine Freude hielt sich also in Grenzen, als unser Kommandeur – nach Tagen der Unklarheit, ob auch Armeeangehörige in den Westen reisen dürfen – mitteilte, dass es auch für Armeeangehörige keine Einschränkungen gäbe. Die Wehrdienstleistenden klatschten und johlten vor Begeisterung, auch Berufssoldaten freuten sich offen. Andere dachten, ebenso wie ich, ein paar Schritte weiter.

Mit der Öffnung der Grenze passierte das, was ich immer verachtete. Jene, die uns bisher ständig belehrt hatten und als unsere Vorbilder galten, reisten als erste in den Westen, noch vor der offiziellen Erlaubnis für Armeeangehörige.

In den folgenden Tagen hob die Armeeführung für die Angehörigen der NVA die Kontakt- und Reisesperre auf. Viele Soldaten fuhren in die Bundesrepublik und in andere Länder. Jeder erhielt innerhalb weniger Tage seinen Personalausweis. Bis dahin verfügten die Soldaten der NVA für die Zeit ihres aktiven Wehrdienstes nur über den Wehrdienst- und nicht über einen Personalausweis. Die Anzahl der unerlaubten Entfernungen und der Fahnenfluchten erhöhte sich sprunghaft.

Es entstand ein enormer Sog, den Westen zu besuchen. In den ersten zwei Wochen nach dem 9. November 1989 reisten drei Millionen DDR-Bürger in die Bundesrepublik. Ich fuhr am 30. November mit meiner Familie in den Westen. Ich schämte mich nicht, das Begrüßungsgeld in Höhe von 100 DM entgegenzunehmen, denn mein Staat konnte es mir nicht geben.

Diffuse Führungslage

 Ein Erlebnis eigener Art hatte ich beim Passieren der Grenze. Am Dassower Klinken, einem tief in das Binnenland einschneidenden Teil der Wismarer Bucht, rollten wir viele Kilometer am »antifaschistischen Schutzwall« entlang. Irgendwie erwartete ich gleiche, zumindest annähernd gleiche Schutzanlagen auf der anderen Seite. Mich bedrückte ein beklemmendes Gefühl. Durch diesen Bau hatten wir uns von Europa isoliert und dabei gemeint, die gerechteste Sache der Welt zu gestalten. War es denn wirklich die einzig mögliche Alternative, um den Fortbestand der DDR zu sichern?

Im Truppenteil herrschte derweil eine diffuse Führungslage. Es ging zwar nicht führungslos im Regiment zu, aber die unklare Zukunft lähmte. Viele Vorgesetzte und Berufssoldaten liebäugelten mit völlig neuen Aspekten der Truppenführung, die dann schneller in die Truppe eingeführt wurden, als es manchem Kommandeur lieb war. In einem Fernschreiben des Ministeriums für Nationale Verteidigung vom 6. Dezember 1989 stand nicht etwa die von vielen Armeeangehörigen erhoffte konkrete Stellungnahme von Partei und Regierung zur Armee der DDR, sondern die lapidare Anweisung, den Frühsport abzuschaffen. Lachen konnten wir nicht darüber.

Viel wichtigere Fragen blieben ohne Antwort: Welche Stellung nimmt die Armee in den Tagen des gesellschaftlichen Umbruches ein? Wie wird sie sich gegenüber den sich immer weiter zuspitzenden Ereignissen verhalten?

Das Einsatzkommando

Wir waren der ausführende Arm einer Politik, die wir selbst nicht mehr richtig einschätzen konnten. Darin bestand die Gefahr. Einen befohlenen Einsatz gegen das eigene Volk schlossen wir zu diesem Zeitpunkt gar nicht so aus. Unser Truppenteil bekam im Oktober auf der Kommandeurslinie Befehle, die den Einsatz der Streitkräfte in der angespannten gesellschaftlichen Situation festlegten. Sie betrafen den Einsatz bei zu erwartenden Ausschreitungen, aber auch die Sicherung militärischer Objekte gegen Übergriffe. Befohlen wurde, eine Hundertschaft zu formieren, die auf gesonderte Weisung einzusetzen sei. Man verwies auf einfache Mittel der Gewaltanwendung. Den Wortlaut konnte ich nur überfliegen. Der Kommandeur hatte seine Stellvertreter kurz nach Eingang dieser Order zu sich in sein Dienstzimmer befohlen und uns das als Verschlußsache eingestufte Schriftstück zum Lesen übergeben. Auf der linken Seite stand der Textteil und auf der rechten mussten Fragen beantwortet werden.

Ich erhielt die Weisung, Munition für eine bestimmte Anzahl Pistolen und Maschinenpistolen, ich glaube es waren sechs bis acht MPi und drei bis vier Pistolen, in einer Munitionskiste bzw. im Waffenschrank beim OvD zur Aufbewahrung vorzubereiten. Der Zweck blieb nebulös. Neben dem Gefechtsdienst gab es nun auch ein sogenanntes Einsatzkommando. Die Namensliste musste täglich präzisiert werden. Die Waffen und die Munition wurden aber in den darauffolgenden Wochen wieder eingezogen.

Für den Schutz der militärischen Objekte wäre die Anwendung bewaffneter Gewalt gerechtfertigt gewesen, der Einsatz von Waffen gegen Demonstranten dagegen nicht. Ich glaube kaum, dass die Truppe auch nur einen Befehl in dieser Hinsicht ausgeführt hätte. Die NVA war niemals eine Knüppel- oder Schießgarde.

Am 16. Dezember 1989 wurde das Ministerium für Staatssicherheit/ Amt für Nationale Sicherheit aufgelöst. Die Mitarbeiter der zur Staatssicherheit gehörenden Militärabwehr mussten die Dienststellen verlassen.

Im KRR-18 traf ein Fernschreiben zur Auflösung der Verwaltung 200021 ein. Darin stand der kurze, präzise Befehl, mit sofortiger Wirkung die Abwehroffiziere zu entlassen und die Dienststellen aufzulösen. Die wichtigsten Dokumente hatten die Mitarbeiter schon seit August aus den vergitterten Dienstzimmern des Offiziers für militärische Abwehr an einen anderen Ort gebracht oder vernichtet. Die restlichen Dokumente, so stand es im Fernschreiben, seien in geschlossenen Behältnissen in der VS-Stelle abzustellen. Waffen und Munition müsse das jeweilige Regiment übernehmen. Eine Pistole Typ CZ, eine Maschinenpistole vom Typ Kalaschnikow und eine Unmenge dazugehöriger Munition entfernten wir aus dem Dienstzimmer und bewahrten sie in der Waffenkammer des Technikers für Bewaffnung und Munition auf.

Über Nacht verschwand so der erste Soldat, der zwar nicht personell in der Stärke des Regimentes auftauchte, aber dennoch unsere Dienststelle betreute, aus dem Truppenteil.

Trotz aller Turbulenz dieser Tage gab es auch Angenehmes, beispielsweise unser Regimentsfest. Ich erlebte das zweite nach meiner Versetzung. Wir feierten wieder in Graal-Müritz, im Erholungsheim des VEB Elbenaturstein. Die Leistungen der Angehörigen des KRR-18, besonders nach der Auszeichnung mit dem Bestentitel, wollten wir damit würdigen. Diese gemeinsamen Veranstaltungen, bei denen auch Künstler auftraten, beförderten das zwanglose Gespräch außerhalb des offiziellen Dienstes, die engere Bekanntschaft, das Kennenlernen der Familien und das Verständnis der Ehefrauen für den oft anstrengenden und nicht immer familienfreundlichen Dienst ihrer Männer.

Wir merkten, dass wir auch in diesen schwierigen Zeiten das Lachen nicht verlernt hatten. Immer wieder brachte jemand einen Toast aus oder hielt vor dem nächsten Schluck eine kleine Rede. Gesittet viel und gut trinken zählte zu unseren Tugenden, die heute in einem ganz anderen Licht erscheinen. Ich hatte schon viele Feste während meiner Dienstzeit erlebt, aber dieses Regimentsfest des KRR-18 war etwas Besonderes, jeder fühlte sich noch einmal wie in einer großen Familie.

Wer gut arbeitet, soll auch gut feiern. Einmal im Jahr organisierte der Kommandeur eine Überraschung für seine direkten Unterstellten nebst Ehepartnern. Diese unterhaltsamen Abende halfen mir ungemein, in der kurzen Zeit in einem völlig fremden Truppenteil Fuß zu fassen und sogar nach anderthalb Jahren Kommandeur zu werden. Diese Treffen trugen zum gegenseitigen Verständnis mehr bei, als es durch noch so viel Ausbildungsstunden jemals hätte erreicht werden können. Wir feierten fast ausschließlich in abgelegenen Örtlichkeiten ganz in der Nähe unseres Objektes.

Den letzten gemeinsamen Abend in der alten Besetzung begingen wir in einem als Museum rekonstruierten Forst- und Köhlerhof in Wiethagen, mitten in der Rostocker Heide. Die nachbarschaftliche Bindung zu dem Inhaber und Initiator des Museums brach auch in der Folgezeit nicht ab. Im Gegenteil, durch unsere Möglichkeiten und auch durch eigene Arbeit versuchten wir, Oberförster Gerd Heil zu unterstützen. Brauchte er mal einen Kran, halfen wir natürlich mit unserer Technik.

Auch einen ganzen Meiler mit Holzkohle entleerten die Stellvertreter und direkten Unterstellten des Kommandeurs ein Jahr später und schafften auch damit die Voraussetzungen, gerade den 3. Oktober 1990 in dieser Köhlerei mit Offizieren der Bundesmarine gemeinsam zu begehen. Selbst dieses Treffen erarbeiteten wir uns mit viel Schweiß und Kohlenstaub.

Ab Mitte November 1989 halfen etwa 90 Matrosen vom KRR in der Fleischwirtschaft und in kommunalen Betrieben, die schlimmsten Folgen der massenweisen Abwanderung zu lindern.

Am 18. November 1989 berief Ministerpräsident Modrow den Chef der Volksmarine, Vizeadmiral Theodor Hoffmann, zum Minister für Nationale Verteidigung. Zugleich wurde er zum Admiral befördert.

Am Ende des Jahres änderte sich vieles in der DDR. Entmachtungen, Rücktritte und Verhaftungen von SED-Funktionären, Gespräche zwischen Politikern, Institutionen und Organisationen beider deutscher Staaten. Die Volkskammer strich am 1. Dezember 1989 den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung der DDR. Eine Woche später begannen die ersten Gespräche am »Runden Tisch«.

Die NVA-Führung sprach sich erstmalig zur Loyalität gegenüber dem existierenden Staat aus und glaubte damit, die Kurve zu kriegen, die Armee über die Wende zu retten. Doch die Auflösung hatte schon begonnen. Nach der Liquidierung der Verwaltung 2000 verschwanden nun auch die Politorgane, die Parteiorganisationen sowie deren Strukturen aus der Armee. Bald bekam dieses Konzept einen Namen.

Die Reform beginnt

Am 20. November stellte Admiral Theodor Hoffmann das Demokratisierungskonzept der NVA und eine umfassende Reform vor. Es begann die Zeit der sogenannten Militärreform22, die zwar vom Namen her vielversprechend klang, sich aber tatsächlich – besonders unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen – als ein phantastisch-utopisches Experiment erwies.

Die NVA hörte auf, Armee zu sein, denn die Erleichterungen, die nun nach Bundeswehrmuster in den Kasernen Einzug hielten, formten die Armee um und bereiteten den Weg zur Auflösung der NVA.

Die Grundwehrdienstleistenden nahmen die Erleichterung des Dienstes ernst und lachten sich aber insgeheim ins Fäustchen. Unter der Hand fragten sie sich, ob sie ihren Arbeitgeber um freiwilligen Urlaubsabzug bitten sollten. Doch spätestens mit der Währungsunion begannen sie, sich ernsthafte Gedanken um ihre Arbeitsplätze zu machen. Viele Betriebe stellten ihre Produktion um, strafften ihre Organisation und verringerten natürlich in erster Linie ihr Personal. Arbeitslosigkeit nach dem Ende der Dienstzeit drohte. Viele Matrosen kamen mit diesen Sorgen zu mir. Was sollte ich ihnen sagen? Der spätere Minister für Abrüstung und Verteidigung hielt sich bedeckt. Auch wenn den Betrieben und Unternehmen per Gesetz untersagt wurde, Grundwehrdienstleistenden zu kündigen, erhielten in vielen Fällen dennoch die ins Berufsleben zurückkehrenden Soldaten ihren »blauen Brief« vom Arbeitgeber. Viele Firmen existierten schon gar nicht mehr. Das machte die Matrosen und Unteroffiziere natürlich nicht glücklich. Als Kommandeur konnte ich in dieser Beziehung nur sehr eingeschränkt handeln. Ich konnte auf die arbeitsrechtliche Lage aufmerksam machen, ein tröstendes Wort sagen und auch einen Matrosen ein paar Wochen, nach dessen Antrag an das KVM Rostock, eher aus dem Grundwehrdienst entlassen, um seinen Arbeitsplatz zu sichern.

Dass Firmeninhaber auf Grund einer überdurchschnittlichen Umsatz- und Ertragslage um die Entlassung ihrer Mitarbeiter aus dem Armeedienst baten, erlebte ich nur in zwei Fällen. Hier konnte ich helfen. Es war zu dieser Zeit vieles möglich. Auch das konnte man unter dem Begriff Militärreform verstehen. Im Dezember 1989 versuchte die SED vergeblich noch einmal das Vertrauen, das sie von höchster Stelle aus über viele Jahre verspielt hatte, zurückzugewinnen. Doch nur wenige glaubten an die Wendehalspolitik eines Genossen Krenz oder eines Genossen Schabowski. Die Parteibasis und auch die DDR-Bevölkerung gaben diesem Vorhaben keine Chance, sie orientierten sich in eine ganz andere Richtung.

Als Soldat, der dieser DDR fast zwei Jahrzehnte treu diente, sozusagen bereit war, den Frieden und das Vaterland zu verteidigen, konnte ich mir nur eines vornehmen, soldatisch die weitere gesellschaftliche Entwicklung ständig zu beurteilen und richtige Schlussfolgerungen für meine Unterstellten, für mich selbst und für die Sicherheit aller abzuleiten. Etwas anderes hatte ich im Grunde auch nicht gelernt. So begann 1990, das letzte Jahr der DDR.

Nur sehr wenige konnten die in der Folgezeit mit D-Zug-Tempo ablaufenden Ereignisse voraussagen. Mit dem Fall der Mauer, das stand für mich fest, hatte die politische Vereinigung beider deutschen Staaten begonnen. Und dass es in einem zusammengeführten Deutschland nicht nach den Gesetzen der DDR gehen würde, lag auf der Hand. Ich begann, mir ernsthafte Gedanken über meine Zukunft zu machen. Viele DDR-Bürger, die schon die DDR-Fahne von Hammer, Zirkel und Ährenkranz befreit hatten, lobten diese Entwicklung in den höchsten Tönen. Ich dachte über mich, meine Familie und über meine Truppe nach, die mir zu Beginn des neuen Jahres anvertraut wurde.

22 – Schriftenreihe »Informationsdienst – Reihe Marinewesen«, Heft 6/90, S.22.

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