“Eine Elite-Einheit der NVA rüstet ab” Das Ende der NVA
Bis zum Tag der Vereinigung am 3. Oktober verblieben noch drei Wochen. Wir richteten unseren Truppenteil »vereinigungswürdig« her, wir entsorgten ihn also.
Ich ging davon aus, daß es Befehle, Durchführungsanordnungen oder sogenannte Vorabempfehlungen gab, die Pannen in der NVA bei der Vereinigung verhindern sollten. Und ich dachte mir, daß sie gemeinsam von östlichen Abrüstern und Erfüllungsgehilfen künftiger Vorgesetzter aus dem Westen ausgearbeitet worden waren.
In manchen Dienststellen, zu denen ich gute Verbindungen unterhielt, lief die Entsorgung von sensibler Technik nach einem selbst für den längerdienenden NVA-Angehörigen nicht auf Anhieb überschaubaren Plan ab.
Das Ministerium Eppelmann hatte im Zusammenhang mit dem vorbereiteten Austritt aus dem Warschauer Pakt eine erste Kategorie sogenannter sensibler Technik festgelegt. Dazu gehörten ausschließlich Spezialnachrichtentechnik und Dokumentationen. Sie wurden eingesammelt und an die sowjetischen Streitkräfte übergeben. Andere Truppenteile übergaben geheimzuhaltende Waffensysteme, Geräte und Verschlußsachen, gemäß eines speziellen Plans, an die Westgruppe oder vernichteten sie in eigener Zuständigkeit. Wir im Küstenraketenregiment übergaben die Geräte 55, moderne Sprachverschlüsselungsgeräte, die wir aus den zwei neuen Startrampen ausbauten, und einige Blöcke, Geräte aus der Nachrichtenzentrale, sowie Verschlußsachen aus der VS-Stelle einem zentralen Abholdienst.
Die faktische Entwaffnung der gesamten Armee schritt voran. Abrüstungsminister Eppelmann sprach bewusst von Entsorgung und vom entsorgungstechnischen Management. Das klang ziviler, friedfertiger, ja geradezu ökologisch.
In der Führung der Bundeswehr und bei den mit der Übernahme der NVA beauftragten Stabs- und Fachoffizieren herrschte unbeschreibliche Angst vor dieser Aufgabe. Hätten sich nämlich zu diesem Zeitpunkt die militärische Führung der NVA sowie einige Verbandschefs und Truppenkommandeure der NVA geweigert, sich entwaffnen zu lassen, zumindest bis zur einvernehmlichen Klärung aller sozialen Fragen der Zukunft der Berufssoldaten, wäre der Termin der Vereinigung am 3. Oktober 1990 ins Wanken geraten. Um es im seemännischen Jargon zu sagen: Der Hintern ging den westlichen Auflösern auf Grundeis.
Der Westen bewältigte die Auflösung der NVA sehr pragmatisch: Trenne einfach die Munition von den Kanonen und konzentriere das Sensiblere von beiden in wenige, sichere, falls notwendig von außen zu schützende Objekte.
Flankenschutz gab es in dieser Zeit vom MfAV. Es praktizierte eine Salamischeiben-Taktik, saß Entscheidungen gnadenlos aus und faselte beständig von Loyalität. Diese ideologisch geschnürte Packung führte zur aktiven Selbstaufgabe einer Armee, die in der Geschichte ihresgleichen sucht. Andere Armeen hätten ihre Waffen in Stellung gebracht oder geputscht.
Das Prinzip der Trennung von Waffen und Munition ließ sich verständlicherweise nicht hundertprozentig durchsetzen, denn es ging um mehrere hunderttausend Tonnen Munition. Doch diese Aktion senkte das Restrisiko. Die Armee und Flotte konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte, nicht mehr durch ultimative Forderungen den Termin der Vereinigung gefährden.
Für die Weiterverwendung, Aussonderung, den Verkauf oder die Verschrottung konnte man sich nun Zeit lassen, denn es bestand keine akute Gefahr mehr. Inzwischen waren ja auch die Soldaten weg, die diese Waffen hätten einsetzen können.
Das Zeitfenster, um die NVA erfolgreich zu entwaffnen und Deutschland zu vereinigen (Juli/ August 1990) war sehr klein. Die Aktivitäten fanden genau während drei Wochen Ende September 1990 statt. Zu keinem anderen Zeitpunkt wäre dieser Operationsplan aufgegangen. Wären die Befehle zur Auflösung der NVA und damit zur Entlassung der Soldaten früher erteilt worden, hätten sie die angekündigte Absicht zum Erhalt eines eigenständigen Territorialheeres in Ostdeutschland als Farce enttarnt.
Die Selbstentwaffnung
Vom Raketen- und Waffentechnischen Dienst des Kommandos der Volksmarine erhielten wir den Befehl, die gesamte Munition des Küstenraketenregiments zur RTTB-18 und in das Munitionslager-18 (ML-18) zur Einlagerung zu transportieren. Von diesem Tag an rollten die Transportfahrzeuge, vornehmlich die gewaltigen Kraz-255 B, Tatra-813, aber auch die W-50 und andere Kfz in kleineren und größeren Kolonnen in Richtung Hanshagen bei Greifswald und nach Seltz bei Altentreptow.
Sie transportierten die Gefechtsteile der Raketen P-21 und P-22. Jedes wog 376 Kilogramm und enthielt fast 300 Kilogramm TGAG-5. Das ist ein hochwirksames Sprengstoffgemisch aus Trotyl, Hexagen und Aluminium. Keine Seezielrakete der NATO kann man diesbezüglich mit der Sprengwirkung und der Sprengstoffmasse vergleichen. Eine »Exocet 38 MM« bringt gerade 160 Kilogramm auf die Flugbahn, eine »Harpoon« schon 230 Kilogramm.
Zu den wichtigen Gefechtsteilen, die wir abtransportierten, gehörten auch elektrische und mechanische Zünder, die den Initialsprengstoff enthielten. Hunderte von Pyroladungen, die beim Start und während des Fluges der Rakete unterschiedliche Funktionen auslösen, gingen auf die Reise. Nicht zu unterschätzen sind die Pulverstangen für das Starttriebwerk »SPRD 192«. Neudeutsch könnte man sie als Booster bezeichnen. In jedem Triebwerk saßen sieben lange Pulverstangen. Vor dem Abtransport mussten sie ausgebaut werden. Die Raketentechnische Kompanie hatte alle Hände voll zu tun, die 64 Raketen des 1. Kampfsatzes, die in den Bereitschaftsstufen I und II lagerten, zu entmunitionieren.
Bei dieser einmaligen umfangreichen Abrüstungsaktion durfte keine Übertragungsladung mit 750 Gramm Schwarzpulver verschwinden. Meine Unterstellten enttäuschten mich nicht. Gewohnt, mit Munition vorschriftsmäßig umzugehen, ergab sich keine Differenz in den Beständen.
Neben der Hauptmasse an Raketensprengstoff lagerte im KRR-18 nicht wenig herkömmliche Munition. Beispielsweise sieben Kampfsätze 23 mm-Munition für die Flak Zu-23. Diese befand sich in einem Bunker. Zirka sechs bis sieben LKW transportierten sie ab. Hinzu kamen noch der gesamte Truppenvorrat und Teile des Operativen Vorrats an Schützenwaffenmunition für Maschinenpistolen und Pistolen. Diese Munition füllte allein einen ganzen Bunker von 400 Quadratmetern. Außerdem besaßen wir noch reaktive panzerbrechende Waffen, die RPG-7, besser als Panzerfaust bekannt. Davon führten wir über 120 Stück ab. Auch Handgranaten, Leucht- und Signalmunition sowie Übungsmunition verluden wir. Nicht zu vergessen die Pioniermunition, also Zündschnüre, Plastiksprengstoff und Zündkapseln sowie tragbare »Strela-Fla-Raketen«.
Unser Regiment war munitionsseitig entsorgt. Übrig blieben 120 Stück Neun-Millimeter-Pistolenmunition. Diese befanden sich in den Magazinen und im Steckbrett der Objektwache.
Einerseits fühlten wir uns erleichtert, alle Bestände an Munition ohne Differenzen abgeführt zu haben, andererseits hatten wir das Gefühl, als Soldaten nichts mehr wert zu sein. Ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, entwaffneten wir uns selbst. Erst viele Jahre später begriff ich, welche unvorstellbare Verantwortung wir insbesondere gegenüber den Wehrpflichtigen, den Bürgern im Lande und auch der Umwelt bezüglich der Sicherheit beim Umgang, bei der Aufbewahrung und Lagerung sowie beim Transport von Munition, flüssigen Raketentreibstoffen und radioaktiven Stoffen hatten. Mit dem Erkennen der Tragweite meiner Verantwortung entwickelte sich bei mir auch Stolz, daß kein Unterstellter und auch kein waffeneinsetzender Kommandant eines Schnellbootes oder einer Startrampe in den vielen Jahren meiner Tätigkeit im Raketen- und Waffentechnischen Dienst zu Schaden gekommen war. Und so wie ich dachten viele Vorgesetzte.
Sicherheit ohne Hochspannung
Sicherheit bei der Lagerung von Munition stand in der NVA an vorderster Stelle. Alle Bereiche in Dienststellen der NVA, in denen vorwiegend Munition, Raketen, flüssige Raketentreibstoffkomponenten, radioaktive oder andere Kampfstoffe lagerten, wurden durch eine Hochspannungsanlage (HSA) geschützt. Diese Anlagen waren im Sinne der Technischen Überwachungsordnung der NVA überwachungspflichtig. Sie durften nur durch zugelassene Betriebe projektiert, errichtet und von der Technischen Überwachung der NVA, dem armeeigenen TÜV, inspiziert und kontrolliert werden. Zugelassene Inspektoren bildeten das Wachpersonal aus. Erst nach abgelegter HSA-Berechtigungsprüfung durfte ein Soldat die Anlage bedienen. Immerhin betrug die Spannung zwischen stromführendem Leiter und Erde 20 Kilovolt.
Die meisten Dienststellen der NVA, die über eine HSA verfügten, waren in einen Unterbringungs- oder Wirtschaftsbereich und in eine Technische Zone oder Gefechtspark getrennt. Zwischen diesen beiden Zonen, im NVA-Sprachgebrauch hießen sie Wohnzone und Technische Zone (Gefechtspark), lagen oft mehrere hundert Meter. Die Technische Zone, von der HSA eingezäunt, konnte sich auch unmittelbar an die Wohnzone anschließen. Kleinere militärische Objekte wie die damalige Raketen-Torpedotechnische Basis in Hanshagen umgab komplett eine HSA.
Die Errichtung und der Einsatz von Hochspannungsanlagen hingen von Größe, Zweckbestimmung und örtlichen Gegebenheiten ab. Auch wichtige Führungspunkte und Schutzbauten umschloss in der Regel eine HSA. Diese Anlagen galten als sicherer Schutz gegen das unbefugte und rechtswidrige Eindringen in besondere Sicherungsräume. Sie gehörten zum Sicherheitsverständnis der Armeeangehörigen und der Zivilbeschäftigten der NVA. Keiner fand Anstoß an der Zweckmäßigkeit und an der Vernichtungswirkung dieser Anlagen. Ich persönlich kannte viele Dienststellen in der NVA mit einer HSA. Diese Schutzanlage wirkte vernichtend und abschreckend.
Die Abschreckung verblasste in der Regel für alle längerdienenden Soldaten, sie gewöhnten sich einfach daran. Die todbringende Wirkung für alle, die ihr zu nah kamen, blieb aber erhalten. Mit der Übernahme der NVA durch die Bundeswehr änderte sich die Auffassung über diese Anlagen. Sie wurden im wahrsten Sinne des Wortes verteufelt, teilweise zum Symbol der verbrecherischen und inhumanen Sicherheitspolitik der NVA erhoben.
In einigen Gesprächen mit Bundeswehroffizieren gewann ich den Eindruck, als ob all diese Anlagen wie heimtückische und tödliche Fallen auf all diejenigen warteten, die ahnungslos im Wald spazierengehen.
Es ist wahr, daß die Hochspannungsanlagen Objekte schützten, die meist entfernt von Siedlungsgebieten, in Waldstücken lagen. Natürlich gab es keine HSA inmitten einer Großstadt. Die Waldstücke kennzeichneten Mitarbeiter vom Militärforst so als Sperrgebiet, daß man diese erste Warnung nicht übersehen konnte. Ging jemand trotz dieses Hinweises weiter in Richtung des betreffenden Objektes, so traf er erst einmal auf einen zwei Meter hohen Maschendrahtzaun, der wenige Meter vor einer Betonmauer stand. Am Drahtzaun befand sich wiederum ein Warnschild, das auf die HSA hinter der Betonmauer hinwies. An manchem Objekt fehlte die Betonmauer. Das Raketenlager der 6. Flottille auf dem Bug befand sich beispielsweise in einem militärisch gesicherten Objekt, deshalb fehlt dort dieser Betonzaun. Auch das Munitionslager der 6. Flottille hatte nicht durchgängig diesen Betonzaun. Alle Angehörigen der Flottille wurden aber belehrt, daß sie in diesem Bereich unbefugt nichts zu suchen hatten. Kurzum, niemand wurde bei einem Waldspaziergang gefährdet.
Menschen, die versuchten, Handgranaten, Waffen und Munition zu stehlen, gingen bewusst ein tödliches Risiko ein. Ich wünschte mir, daß um jedes Waffen- und Munitionslager, um jede Sprengstoff- oder Munitionsfabrik in der ganzen Welt eine HSA stehen würde.
Aber auch eine HSA ist kein Allheilmittel, sie schreckt im ersten Moment ab. Im Berührungsfall signalisiert sie den Kontakt und erzielt auch dann tödliche Verletzungen, wenn der Betroffene lediglich in die Nähe der stromführenden Drähte kommt. In meiner ganzen Dienstzeit ist mir aber kein Fall bekannt, daß Menschen an einer HSA versehentlich zu Tode gekommen sind.
Nach bundesrepublikanischer Rechtsauffassung mussten alle HSA rigoros abgeschaltet werden. Das war natürlich in allererster Linie ein Politikum. Munition und andere gefährliche Güter lagerten in den Konzentrierungsräumen, also in den Munitionslagern oder Basen. In diesen Tagen standen genügend Kräfte zum Schutz und zur Sicherung zur Verfügung. Selbst Offiziere gingen zum Wachdienst, um Veruntreuung und Diebstahl von Munition zu verhindern.
Die sicherheitspolitische Lage war in diesen Tagen, im Gegensatz zu den Vormonaten, entspannt. Die DDR-Regierung hatte mit großen Teilen der Bevölkerung im Vereinigungsrausch den Boden unter den Füßen verloren und die NVA war entwaffnet. Einen günstigeren Zeitpunkt der Außerbetriebnahme der HSA gab es nicht. Die Rechnung ging auch hier auf. Nebenbei konnte man sich auch noch als Saubermann darstellen, der sich von solchen tückischen Tötungsanlagen betont distanzierte.
Im KRR-18 schaltete nun der Errichter der HSA, das Pionierbauregiment-2 aus Bernau, die Hochspannungstransformatoren ab und klemmte dafür ein System an, das bei Berührung nur ein Signal erzeugte. Dieses Sicherungssystem mit unterschiedlichen Sensoren und Videoüberwachung hatte es auch bei den bewaffneten Organen der DDR gegeben. Es entsprach den Prinzipien westlicher Militärs.
Die Hochspannung wurde Ende September abgeschaltet, die Munition war zu diesem Zeitpunkt schon abtransportiert, aber noch lagerten zirka 180 Tonnen flüssiger Raketentreibstoff in dem Areal, das früher durch die HSA geschützt wurde. Die zwei Komponenten des Raketentreibstoffs, der Oxydator und der Brennstoff, waren, um die Gefährlichkeit zu beschreiben, Munition und HSA in einem. Die maximale Arbeitsplatzkonzentration von Melange und Samin beträgt 5 ml je Kubikmeter. Das ist ungefähr ein Fingerhut voll, bezogen auf jeden Raumkubikmeter. Ist zum Beispiel ein Laborraum sechzig Kubikmeter groß, so dürfte nicht einmal ein Laborglas mit einem halben Liter des Treibstoffes offen stehen. Die Gefährlichkeit dieser Treibstoffkomponenten potenziert sich, wenn sie miteinander in Kontakt kommen. Sie entzünden sich unter Freigabe von großer Energie.
Ich kenne mich mit diesen Stoffen sehr gut aus, denn ein halbes Jahr nahm ich an einem entsprechenden Qualifizierungskurs in Uljanowsk in der Sowjetunion teil.
Um das Thema Zaun abzuschließen, etwas Privates und etwas Zauniges. Als die Anlagen an der ehemaligen Westgrenze abgebaut wurden, wollten wir mit den Streckmetallfeldern die marode Umzäunung um die Wohn- und Wirtschaftszone des Küstenraketenregiments sanieren. Das kostete kein Geld. Auf dem Dienstweg besorgten wir das Material und schafften es während der Fahrschulausbildung von Tarnewitz nach Schwarzenpfost. Nachdem das Schicksal des Küstenraketenregiments besiegelt war, erwies sich das gesamte Streckmaterial als überflüssig. Ich ließ also von den Hunderten von der Westgrenze herantransportierten Streckmetallstreifen 20 bis 30 Stück auf einen Kraz laden und fuhr das gekaufte Material zu meinem Wochenendgrundstück nach Marlow. Ich errichtete einen nur einen Meter hohen »antifaschistischen Schutzwall« um meinen Garten im Marlower Siedlerverein »Alte Burg«. Dieser Zaun wird vielleicht nicht gerade hundert, bestimmt aber zwanzig Jahre stehen. Das Kuriose dabei, den Gartennachbarn und Anwohnern aus Marlow gefiel dieser Zaun. Mit den Resten umgrenzten vier Nachbarn ihre Gärten wie eine kleine DDR.
Wir starteten die nächste Entsorgungsaktion. Jetzt war die mobile Auftank- und Transportanlage (ATA) für die flüssigen Raketentreibstoffe dran. Die Spezialaufbauten befanden sich auf handelsüblichen, natürlich sowjetischen Fahrzeugen wie Ural-325 D, Kraz-255 B und Sil-131 M. Mit diesen Mitteln und Kräften sollten bei Erhöhung der Gefechtsbereitschaft, gemäß dem Plan der Überführung des KRR-18 vom Friedens- in den Kriegszustand, die Raketen mit den Treibstoffkomponenten Melange-20k und Samin (TG- 02) betankt werden. Im Normalzustand standen die ATA , genauso wie die Raketen, enttankt, neutralisiert bzw. gereinigt und abgestellt in der Technischen Zone.
Mir sind die Zusammenhänge unklar, weshalb gerade die ATA so schnell abgebaut werden musste. Aus meiner Sicht gab es keine plausiblen Erklärungen. Eins wusste ich, daß diese Spezialtechnik unheimlich teuer in der Anschaffung war. Denn bei der Komponente Melange-20k handelte es sich um ein Salpetersäuregemisch. Es ist nicht nur sehr toxisch, sondern auch stark ätzend. Die gesamten Materialien des Spezialaufbaus bestanden deshalb aus Chrom-, Nickel- und Vanadiumlegierungen, handelsüblich unter dem Begriff V2A bekannt. Die Vorbereitungen zum Abtransport nahmen einige Tage in Anspruch. Selbst unter diesen Umständen erfassten wir vorschriftsmäßig die Belege mit Fahrgestell-, Motor- und Aufbaunummern. So setzten sich nach ein paar Tagen der Vorbereitung die Kolonnen der ATA tagein, tagaus in Richtung Demen in Marsch. Denn im Regiment befand sich nicht nur die Technik für zwei tatsächlich vorhandene Küstenraketenabteilungen, sondern auch die gesamte ATA der 3. KRA, die personell noch nicht aufgestellt war, aber konserviert im Bereich der Tankzone stand. Sicherlich wäre sie zur Aufstellung gekommen, wenn die kleinen Raketenschnellboote vom Typ 205 (OSA-1) endgültig ausgemustert worden wären.
In Demen lagerten wir die gesamte Spezialtanktechnik in der dortigen Raketenbrigade-5 ein. Später erfuhr ich, daß große Teile der ATA der NVA bei Brest auf einer riesigen Abstellfläche vergammeln.
Mit dem Abtransport der ATA passierte das letzte besondere meldepflichtige Vorkommnis, ein Verkehrsunfall. Ein Ural-375D fuhr in Demen auf das vor ihm stehende Fahrzeug auf. Ein Werkstattwagen des KRR fuhr mit den fähigsten Spezialisten, mit Fregattenkapitän Galda nach Demen, um die Blechschäden zu beheben. Das war Galdas letzter Einsatz in seiner langjährigen Dienstzeit bei den Landstreitkräften und der Volksmarine. Schweren Herzens trennte er sich vom Küstenraketenregiment. Die DEKRA hatte schon seine Fähigkeiten als Kfz-Ingenieur und Sachverständiger erkannt.
In der Folgezeit verluden wir noch sechs mobile 23-mm-Flakgeschütze. Diese hatten wir erst vor reichlich einem Jahr erhalten. Heute ging alles wieder retour. Dann bewegte sich eigentlich nichts mehr. Das änderte sich erst mit dem Golfkrieg.
Personalentscheidungen im Chaos
Es begann ein Abrüstungsprozess spezieller Art, der weitaus schwieriger war, als eine Technikeinheit von A nach B zu bringen. Schon vor der Vereinigung begann unter der Führung von Eppelmann und Hoffmann die personelle Ausdünnung. Am 10. August 1990 wurde auf einer außerordentlichen Kommandeurstagung im Kommando Volksmarine mitgeteilt, daß die NVA personell zu reduzieren sei. Mit sofortiger Wirkung löste sich der gerade gegründete Bereich der staatsbürgerlichen Bildung auf.
Auf dieser Kommandeursberatung teilte der Chef der Volksmarine weiter mit, daß gemäß Befehl Nr. 26/90 des Ministers, alle ehemaligen Politoffiziere und die Mitarbeiter für staatsbürgerliche Arbeit zu entlassen seien. Mit großer Wahrscheinlichkeit übernähme die Bundeswehr keine Politoffiziere und diese würden dann nach der Vereinigung mehr oder weniger in Unehren entlassen, d.h. gefeuert.
Im Nachhinein erwiesen sich die Aussagen als falsch. Es bestand kein Zwang, auch nur einen Politoffizier oder Offizier für staatsbürgerliche Arbeit zu entlassen. Der zu diesem Zeitpunkt propagierte Rausschmiss für diese spezielle Verwendungsgruppe hätte ohne weiteres auch im Rahmen der Entlassung aller NVA- Angehörigen umgesetzt werden können. Ich kann mich nicht erinnern, den Befehl Nr. 26 in Händen gehalten zu haben. Das einzige, was ich fand, war ein Brief des Chefs der Nationalen Volksarmee und ein sechsseitiges Papier mit den Erläuterungen zur Beratung am 10. August. Darin wurde die Entlassung empfohlen. Den Inhalt erläuterte ich den Angehörigen meines Truppenteils.
Damals herrschte eine chaotische Informationssituation. In Extremfällen ging an den Fernschreibgeräten das Papier aus, weil das MfAV die Änderungen zur 010/0/003-Innendienstvorschrift laufende Meter durchtickerte, in anderen Fällen erreichte mancher Befehl diesen oder jenen Truppenteil überhaupt nicht. Einige Festlegungen des MfAV erfuhren wir lediglich aus der Tageszeitung.
Autoritätsgläubig entließen wir auf dieser Basis Leute, deren aktuelle Rechtsstellung im Grunde genommen nicht antastbar war. Als im Nachhinein das Ministerium auf die katastrophalen Folgen reagierte, waren die Bauernopfer schon gebracht. Der Kampf um die nackte Existenz fand in einem Nebel aus nichteindeutigen Informationen, aus Hast und aus eigener Interpretation statt. Oft fragten wir uns, ob dahinter System oder Dummheit steckte – wahrscheinlich beides.
Wir waren gewohnt, Befehle auszuführen. Nach der Bekanntgabe durch den Chef der Volksmarine überlegte ich mir, wie ich es den betroffenen Unterstellten mitteilen sollte. Für mich war klar, daß mir und allen anderen Kommandeuren, Chefs und Leitern befohlen wurde, die Politoffiziere und die Mitarbeiter für staatsbürgerliche Arbeit in ihrem ureigensten Interesse zu entlassen. Ich teilte schon am nächsten Tag jedem betroffenen Offizier die ungeschminkte Wahrheit mit.
So erklärte ich vier gestandenen Soldaten, daß es in ihrem eigenen Interesse liege, die NVA bis zum 30. September zu verlassen. Bis zu diesem Zeitpunkt war nicht klar, ob nach Auflösung der NVA, also nach dem 3. Oktober 1990, eine Abfindung überhaupt gezahlt würde und ob dann dies auch für Politoffiziere zuträfe.
Die Korvettenkapitäne Herrmann, Barten und Just, ehemalige Politoffiziere, saßen nun vor mir. Hermann war ein robuster Typ, der alles beim Namen nannte und manchmal mit dem Kopf durch die Wand wollte. Wo etwas bewegt werden sollte, setzte ich ihn ein. Er fühlte sich bei der Truppe in der vordersten Reihe am wohlsten.
Peter Barten, ein sehr ausgeglichener und ruhiger Typ, erfüllte fleißig und ohne großes Aufsehen die an ihn gestellten Aufgaben.
Korvettenkapitän Just kam erst im Januar 1990 aus dem in Hinrichshagen benachbarten Grenzbataillon in die Volksmarine.
Korvettenkapitän Löffler fuhr früher als Kommandant eines Schnellbootes. Er wurde mir als geeigneter Offizier vorgeschlagen, als es galt, die Arbeitsgruppe Staatsbürgerliche Arbeit aufzubauen.
Langgediente, erfahrene Einheitskommandeure und Truppenoffiziere in Dienststellungen einzusetzen, die vor Jahren ausschließlich Politkadern vorbehalten waren, erwies sich als ein richtiger, aber viel zu spät gefasster Entschluss.
Jeder der vor mir sitzenden Offiziere trug sein Schicksal mit Fassung, auch der schnell aufbrausende Hermann blieb ruhig. Ich entließ mit ihnen die ersten Weggefährten ins Nichts.
Später, als sich die Sachverhalte klärten und sich herausstellte, daß einiges doch nicht so ablief wie gedacht, waren die Offiziere schon entlassen. Im Grunde genommen entledigte sich die Bundeswehrführung schon im Vorfeld auf diese Art und Weise der für sie höchst anrüchigen Politkader der NVA. Die Herren werden sich gesagt haben: Das ist ein Problem, dessen wir nicht Herr werden, lasst doch die NVA bis zur Übernahme dieses in eigener Zuständigkeit klären. Mit Politoffizieren des SED-Regimes werden wir weder sprechen noch verhandeln. Deshalb empfehlen wir… Das notwendige Durcheinander bei der Durchsetzung eines Entlassungsbefehls organisiert schon das Abrüsterministerium ohne unsere Hilfestellung. Sind diese Gedanken abwegig? Erhärtet wird die Vermutung auch durch andere Tatsachen wie zum Beispiel den Befehl Nr. 28/90. Er betraf nicht das Küstenraketenregiment, denn er regelte die Entlassung von Berufssoldaten mit einem Lebensalter ab 55 Jahren in die befristete erweiterte Versorgung, d.h. in den Ruhestand. Tatsächlich saßen in vielen Führungspositionen zu alte Offiziere. Befähigte jüngere Kader bekamen dadurch selten eine Chance. Wie gezielt man diese Personalsituation und die zum Teil berechtigte Argumentation nutzte und dazu das Gerücht einstreute, das beträfe auch Berufssoldaten ab 50 Jahren, war schon bestechend. Es gab sogar das Gerücht, Berufssoldaten, die mit Frauen sowjetischer Herkunft verheiratet sind, seien zum 30. September zu entlassen.
Kein einziger Befehl wurde von oben so »durchgestellt«, wie es in der NVA üblich war. Chaos, Gerüchte und Diskriminierung beförderten einen gewollten Selbstzerlegungsprozess der NVA.
Jeder Tag bot etwas Unerwartetes und Sensationelles. Nie gab es etwas Positives, für uns Erlösendes oder Klärendes. Oft begann ich an mir selbst zu zweifeln. Heute sage ich mir: Ich hätte es darauf ankommen lassen müssen, aufrecht und ehrlich zu provozieren. Jeden Politoffizier hätte ich irgendwo auf einer Planstelle einer Küstenraketenabteilung oder in den Rückwärtigen Diensten »verschwinden« lassen können. Ex-Politoffizier Herrmann hätte dann mit den bald eintreffenden Angehörigen der Unterstützungsgruppe angeregt über die Tagespolitik diskutieren können. Aber gerade das wollte die Bundeswehr ja verhindern.
Trotzdem verspüren noch heute alle ehemaligen Offiziere, die durch den Befehl 26 entlassen wurden, eine gewisse Genugtuung. In der DDR traten sie in die Streitkräfte ein und in Ehren wurden sie auch in der DDR entlassen.
Der personelle Kahlschlag, der nach dem 3. Oktober einsetzte, glich mehr einer Diskriminierung einer ganzen Berufsgruppe in der neuen Bundesrepublik. Der letzte Enthauptungsschlag traf die Generalität und Admiralität. Kein Admiral, kein General der NVA blieb nach dem 3.Oktober auf seinem Posten.
Um die Brisanz des Themas zu verdeutlichen, versetze ich mich jetzt in die Funktion eines zukünftigen Drei-Sterne-Generals West, bevor dieser den Rest der NVA übernahm: Was haben wir vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland in den Streitkräften der DDR erreicht?
- Die teilweise oder vollständige Entwaffnung wichtiger Truppenteile und Verbände der NVA durch Trennung der Munition und Raketen von den Einsatzmitteln mit anschließender Konzentrierung in gesicherten Räumen.
- Der politische Gegner in Form von Politoffizieren und Politorganen ist handlungsunfähig und größtenteils entlassen.
- Der militärische Forschungs- und Lehrkörper ist, wenn nicht entlassen, schachmatt gesetzt, die Ausbildung eingestellt.
- Der Grad der Selbstzerfleischung innerhalb der NVA und der von vorgesetzter Stelle nicht dementierte Glaube vieler NVA-Offiziere an gemeinsame deutsche Streitkräfte schufen günstige Bedingungen für weitere Abbauaktivitäten nach dem 3. Oktober.
- Es bewährte sich die Strategie, Generäle und Admiräle bis zuletzt auszuhalten. Es entstand kein Führungsvakuum vor der Übernahme.
- Die mittelfristig praktizierte Salamischeibentaktik funktionierte bis zum 3. Oktober 1990 hervorragend. Die Entwaffnung und Paralysierung der NVA, als Abrüstung dargestellt, wäre sonst auf einmal nie möglich gewesen, ohne einen offenen Militärputsch zu provozieren.
- Nach der Übernahme der Befehlsgewalt sind Nägel mit Köpfen zu machen.
- Das Restrisiko verringerte sich durch die Maßnahmepunkte 1 bis 6 soweit, daß eine Übernahme der NVA problemlos erfolgen konnte.
- Es gibt keinen anderen Bereich in der untergehenden DDR, in dem vorab in einer unvorstellbar kurzen Zeitspanne auch nur annähernd solche Ergebnisse schon in der Vorbereitungsphase erreicht wurden.
- Der zweite Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR schuf die rechtlichen Voraussetzungen, nach dem 3. Oktober mit allen möglichen Mitteln die NVA endgültig zu beseitigen.
Die Realisierung dieser zehn Punkte lief ab wie in einem Stummfilm. Wir waren Zuschauer und Akteure zugleich. Wolltest du etwas sagen, keiner verstand dich. Du konntest weinen oder lachen, keiner hörte es. Man konnte einfach dagegen nichts machen, außer, man verließ einfach das Theater. Man brauchte nicht einmal Mut dazu. Es gab keinen, der einen daran hinderte oder versuchte, zum Bleiben zu überreden. Hatte man sich aber zum Gehen entschieden, dann stand man einsam auf der Straße.
Minister ohne Vertrauen
Das Ende der NVA war gekommen. Es herrschte in allen Teilstreitkräften eine bittere Enttäuschung. Alle Angehörigen der NVA fühlten sich in diesem kurzen Zeitraum gleich zweimal verraten. Das erste Mal durch Honecker und das zweite Mal durch Eppelmann. Das Ministerium für Abrüstung und Verteidigung zeigte sich mit seinem ureigensten Anliegen überfordert und nicht in der Lage, die unterstellten Organe, Truppen und Einrichtungen zu führen. Es bestand akuter Handlungs- und Klärungsbedarf. Alle wussten aber, daß nicht mehr gehandelt wird. Denn es gab nichts mehr zu entscheiden.
Um der Truppe die gesamte Lage wenigstens zu erklären, möglicherweise diesen oder jenen Sachverhalt richtig darzustellen oder zu korrigieren, rief am 12. September der Minister alle Kommandeure ins Tagungszentrum nach Strausberg. Die Stimmung war mehr als gereizt. Schwerpunktmäßig sollten die Festlegungen zum Einigungsvertrag und deren Bedeutung für die NVA dargelegt und erläutert werden. Genaues darüber wusste keiner. Wer die »Frankfurter Allgemeine« vom 29. August gelesen hatte, war schon etwas informiert.
Eventuelle Erwartungen erfüllten sich nicht. Antworten auf konkrete Fragen zur Zukunft der NVA, zur Reduzierung der NVA, zu sozialen Problemen gab es nicht. Der Chef der NVA, Admiral Theodor Hoffmann, versuchte zwar einiges zu klären, aber wir, die aufmerksamen Zuhörer merkten, daß er für uns nichts mehr tun konnte. So nahm er diese letzte Kommandeurstagung zum Anlass, sich bei allen anwesenden Kommandeuren zu bedanken und sich zu verabschieden.
Es war für ihn nicht leicht, und die Kommandeure dankten ihm für seine ehrlichen und kameradschaftlichen Abschiedsworte mit einem langen und herzlichen Beifall wie ihn keiner der ranghöchsten Militärs der DDR je erhalten hatte.
Anschließend versuchte Minister Eppelmann das Ruder herumzureißen. Auch er konnte überzeugen, die eingeladenen Kommandeure hörten diszipliniert zu, aber die allgemeine Unzufriedenheit spürte man in jedem Gesichtsausdruck. Den Vertrauensverlust, den der Minister binnen eines halben Jahres einstecken musste, konnte er jetzt nicht mehr wettmachen. Nach seinem ersten Auftritt am 2. Mai bis Ende Juli 1990 vertrauten ihm fast ausnahmslos alle Kommandeure. Er war zwar Pfarrer und nicht Gott, dennoch erschien er uns als ein Hoffnungsträger, der versuchte, die gesellschaftliche Stellung der Soldaten in der DDR in seiner Funktion als Minister zu erkennen, sein persönliches Schicksal als Wehrdienstverweigerer mit seiner neuen Funktion in Einklang zu bringen und uns letztlich fühlen ließ, daß die Soldaten der DDR genauso Menschen sind, die ihre Pflicht erfüllten wie der Bauer auf dem Lande, der Schlosser in der Werft und die Verkäuferin hinter dem Ladentisch.
Ich habe sein Buch »Fremd im eigenen Haus« sehr aufmerksam gelesen und versucht, mich in seine Person zu versetzen. Er verfügte mit seinem Mandat über das moralische Recht, uns sofort nach Hause zu schicken. Warum hat er sich für einen anderen Weg entschieden? Oder war das alles nur Täuschung? Im Grunde scheiterte er nicht an sich selbst, sondern vermochte, wie der Zauberlehrling, die Kräfte, die er rief, nicht mehr zu beherrschen.
Eine kleine Episode aus dem Tagungszentrum soll die nicht zu unterschätzende Dramatik jener Tage verdeutlichen. In der Diskussion meldete sich der Kommandeur eines Pionierregiments. Der Mann mit einer riesigen Statur polterte mit einer tiefen Stimme los: »Herr Minister, meine Soldaten und ich haben hauptsächlich das militärische Handwerk gelernt, zu unseren Aufgaben gehört es, Sprengladungen herzustellen und zu zünden. Was sollen wir machen, wenn wir von heute auf morgen auf der Straße sitzen?« Er bekam keine wirkliche Antwort. Sichtlich enttäuscht fuhren die Kommandeure in ihre Standorte zurück. Jetzt gab es nur noch eine Frage: aussteigen oder weitermachen? Wenige Tage vor der Vereinigung teilte ich dem gesamten Personalbestand mit, daß ich mich nach reiflicher Überlegung entschlossen habe, Kommandeur des Küstenraketenregiments-18 auch nach dem 3. Oktober 1990 zu bleiben. Das war ein Sprung ins kalte Wasser, denn zu diesem Zeitpunkt kannte ich die neuen Arbeitsbedingungen nicht vollständig, konnte nicht genau einschätzen, welche Schlussfolgerungen meine Unterstellten gezogen hätten, wenn ich den Dienst zum 3. Oktober quittiert hätte. Sie folgten mir. Und ich glaube, sie taten es nicht deshalb, weil ich sie dazu animierte, sondern weil sie nicht anders dachten als ich. Ich konnte also mit meiner Meinung nicht falsch liegen. Wer aber eine bessere Alternative sah, dem riet ich zu gehen. Jeder musste dies mit sich selbst ausmachen.
Anschluss mit Degradierung
Die letzten Tage des Septembers vergingen merklich schnell. Obwohl jeder im Küstenraketenregiment den sich ausbreitenden Stillstand empfand, erfüllten wir in diesen Tagen ein umfangreiches Arbeitspensum.
Das Regiment verfügte zu diesem Zeitpunkt noch über 38 Prozent der Sollstärke des gültigen Stellen- und Ausrüstungsnachweises, kurz STAN-85 genannt. Grundwehrdienstleistende kamen nicht mehr ins KRR-18. Es blieben schließlich 50 Offiziere, 51 Unteroffizier und Fähnriche sowie 44 Soldaten im Grundwehrdienst und 56 Zivilbeschäftigte.
Diese Soldaten bekamen in den nächsten Tagen Bundesmarineuniformen. Es existierte ein konkreter Plan, der die Ausrüstungstage auch des Küstenraketenregiments vorsah. Ich hatte ein Gefühl wie beim Umtausch der DDR-Mark in die Deutsche Mark. Ich empfand kein Glück dabei. Ich stellte mir die Frage: Wie werden mich meine Unterstellten in der neuen Uniform anschauen? Soldaten im Grundwehrdienst diskutierten ja schon abends in den Stuben über den äußerlich feststellbaren Wertewandel der Offiziere.
Ich selbst war verunsichert, als ich ehemalige Mitstreiter, Vorgesetzte oder einfach mir bekannte Offiziere in der neuen Uniform sah. Besonders spürte ich das, als wir Monate später den sowjetischen Nachbarn vom »Regiment nebenan« gegenüber saßen. Selbst meine engsten Mitarbeiter befragte ich nie, wie sie sich fühlten. Aber ich spürte, daß sie so ähnlich wie ich empfanden.
Natürlich fühlte sich die Bundesmarine überfordert, für jeden eine vollständige Ausrüstung bereitzustellen. Das war jedem von uns klar. Deshalb gaben wir jeder zwei Jacketts der Volksmarine ab, an denen die Schlaufen für die Schulterstücke abgetrennt und die Kolbenringe der entsprechenden Dienstgrade an- und eingenäht wurden. Als sehr angenehm empfand ich den bequemen blauen Sweater mit den verstärkten Ellenbogen und den mit Klettverschluss versehenen Dienstgradlaschen. Die NVA hatte sich nichts Ähnliches einfallen lassen. Erst viel später erfuhr ich vom Chef des B/A-Dienstes, dass viele gute Ideen und Vorschläge in diesem Fachbereich dem Rotstift zum Opfer gefallen sind. Raketen und andere Bewaffnung waren immer wichtiger als Bekleidung und Ausrüstung.
Uns fehlte das normalerweise zur kompletten Uniform gehörende Namensschild. In anderen Einheiten beschafften sich das einige schnell. Wir im Küstenraketenregiment zeigten uns etwas konservativ. Es gab bis zu meinem Weggang keinen, der sich ein Schild extra anfertigen ließ. Dieses äußere Merkmal ließ bei gemeinsamen Treffen und Besprechungen West und Ost schnell erkennen.
Die Führung eines Dienstgrades nach dem 3. Oktober war ein Bestandteil der Übernahmemodalitäten der NVA durch die Bundeswehr. Wo sie konkret geregelt und festgeschrieben wurden, kann ich bis zum heutigen Tag nicht sagen. Die ersten Weisungen erhielten wir mündlich, auf dem Dienstweg. Sie lösten ein mittleres Chaos aus. Ein nicht ungewohnter Zustand für uns. An einem der folgenden Tage kam ein klärendes Fernschreiben aus dem MfAV. Links stand der alte Dienstgrad in der NVA, rechts der vorläufig neue Dienstgrad im besonderen Dienstverhältnis der Bundeswehr.
Im Regelfall wurde mit einigen Ausnahmen jeder NVA-Angehörige um eine Stufe heruntergesetzt. Ein Fregattenkapitän wurde Korvettenkapitän, ein Fähnrich wurde Bootsmann. Der Fähnrich-Dienstgrad, den es in der Bundesmarine nicht gab, wurde der entsprechenden Portepee-Unteroffiziersdienstgradgruppe der Bundesmarine zugeordnet. Wer also Stabsfähnrich war, wurde Hauptbootsmann. Manch junger Leutnant fand sich nach dem 3. Oktober als Unteroffizier wieder.
So hanebüchen, wie die von der DDR-Regierung formulierte Rechtsstellung der NVA-Angehörigen bei der Übernahme war, so diskriminierend empfanden wir die Herabsetzung im Dienstgrad. Im zweiten Staatsvertrag stand bezüglich der Beibehaltung oder Veränderung der Dienststellung/Dienstgrad überhaupt nichts.
Die Bundeswehrführung besaß weder einen Plan noch eine Vorstellung, wie dieses Problem umgesetzt werden sollte; es war nur klar: keine Politniks, keine Generäle/Admiräle.
Bürokratisch und scheinbar gefühllos glich sie anhand der Regelbeförderungszeiten der Bundeswehr die einzelnen Dienstgrade der NVA an. Von Anfang an, doch spätestens mit der Beitrittserklärung der Volkskammer der DDR, wussten die Verantwortlichen der Bundeswehrführung und des Eppelmann-Ministeriums, das voraussichtlich nicht viele längerdienende Offiziere, Fähnriche und Unteroffiziere von der Bundeswehr übernommen werden. Daß sich bei jenen der Bundesminister für Verteidigung vorbehielt, den endgültigen Dienstgrad festzulegen, ist allzu verständlich und durchaus logisch.
Die pauschalen Herunterstufungen im Dienstgrad berührte aber die Besoldung nicht. Warum also demütigte man Soldaten, die in den meisten Fällen in ihrem Beruf auch ihr Leben sahen, und die sich von Stufe zu Stufe ihren Dienstgrad erkämpft hatten?
Schlimmer kann man einen Soldaten nicht treffen. Dann lieber eine öffentliche Degradierung im Sinne der militärischen Bestimmungen der NVA. Runter mit den Schulterstücken, dann weiß man, was man wert ist.
Die durchgängige Degradierung der NVA-Offiziere bei der friedlichen Übernahme der gesamten Streitkräfte machte keinen Sinn. Es sei denn, man wollte zeigen, wer der Herr im Hause ist.
Als einige die »inneren Verletzungen« der ehemaligen NVA-Soldaten durch diesen Angleich mitzuempfinden begannen, war schon alles zu spät. Einen Rückzieher riskierte niemand.
Diese bürokratische und pauschale Festlegung über Dienstgrad und Dienststellung der ehemaligen NVA-Angehörigen schuf keine Vertrauensbasis für eine gesamtdeutsche Truppenreduzierung. Deshalb ziehe ich besonders vor allen meinen Offizieren den Hut, die diesen Gram hinunterschluckten und die neue Uniform mit dem niedrigeren Dienstgrad anzogen. Ich durfte auf Grund einer dienstgradgerechten Verwendbarkeit als Kommandeur des Küstenraketenregiments-18 den Dienstgrad Fregattenkapitän als einziger behalten. Stolz war ich nie mehr darauf.
Mit der Auflösung der SED und der Herauslösung dieser Partei aus den Strukturen der NVA wurden alle parteiinternen Dokumente vernichtet. Jeder Armeeangehörige erhielt seine Personalunterlagen. Sie enthielten nichts Geheimes oder Anrüchiges, die persönlichen Unterlagen kannte außer den Vorgesetzten und Kaderoffizieren niemand.
Ich blätterte nun meinen militärischen Werdegang durch, sah mein Bewerbungsschreiben aus dem Jahr 1970, meine Zensuren von der Akademie und las die Attestationen meiner Vorgesetzten über mich.
Es war eine richtige Entscheidung, die Unterlagen den Betroffenen auszuhändigen. Vielleicht hätte sich dieser oder jener irgendwann noch rechtfertigen müssen, daß er im Sinne des Arbeiter- und Bauernstaates stets vorbildlich seine Pflicht erfüllt hat.
Der Oberoffizier für Kader führte als letzte Amtshandlung noch eine kleine Schönheitsoperation durch, er wandelte die weiblichen Armeeangehörigen zum 3. Oktober in Zivilangestellte um. Denn in der Bundeswehr gab es nur im Sanitätswesen und bei den Militärmusikern weibliche Uniformierte. Meine Sekretärin, Petra Zülow, kam bis dahin sowohl in Zivil als auch in Uniform einer Stabsobermeister(in) und sah in beiden Anzugsarten adrett und schick aus. Ich ahnte damals nicht, mit welcher innerlichen Hingabe sie Berufsunteroffizier war. Erst später erfuhr ich, wie weh es ihr getan hat, den Soldatenrock abzulegen.
Wenige Tage vor dem 3. Oktober bekam ich eine Liste mit den Namen der Offiziere und Beamten, die mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 in das Küstenraketenregiment-18 als Unterstützungsgruppe kommandiert wurden. Fregattenkapitän Haprich kannte ich bereits. Unlängst begutachtete er in unserem Regiment mit der Spezialistengruppe die Raketen, Bewaffnung und die Munition. Auf dem Zettel standen noch die Namen von Fregattenkapitän Eberhard Eicke, Fregattenkapitän Jörg-Peter Linde, Korvettenkapitän Millmann, Oberbootsmann Günther Radtke, Regierungsoberinspektor (ROI) Peter Knuth sowie Herr Amende, ein Mitarbeiter der Bundeswehrverwaltung.
Für jeden ließ ich ein Arbeitszimmer im Stabsgebäude herrichten. Platz gab es auf Grund der Entlassungen genug. Wo es notwendig wurde, rückten meine Mitarbeiter zusammen oder zogen um.
Fregattenkapitän Eberhard Eicke stellte sich als Leiter der Unterstützungsgruppe vor. Kapitän Linde sprach als erster das für uns nicht deutbare Wörtchen LUg für Leiter der Unterstützungsgruppe aus. So schnell hatte sich im Regiment eine Abkürzung noch nie durchgesetzt.
Das Dienstzimmer vom LUg ließ ich genau gegenüber meinem Zimmer einrichten, um die Wege zueinander so gering wie möglich zu halten. In sein Vorzimmer platzierte ich den Oberbootsmann, bei dem ich annahm, daß er Sekretärs- und Koordinationsarbeiten für den Leiter ausführen wird. Wir waren für den Empfang gerüstet.
Der 3. Oktober 1990 rückte immer näher. Der Chef der Volksmarine beorderte seine Kommandeure zum letzten Mal in das Kommando der Volksmarine. Er verabschiedete sich von seinen Unterstellten. Er belobigte alle Kommandeure, Chefs und Leiter mit einer Geldprämie und einigen Erinnerungsgeschenken. Ich erhielt einen schönen Porzellanteller mit dem Wappen der Volksmarine. Zu dieser Zeit gab es schon einen Berater aus der Bundesmarine im Kommando der Volksmarine. Kapitän zur See Kamper löste schon am 30. August den sowjetischen Berater Vizeadmiral Kolmogorow ab. Vizeadmiral Born teilte uns mit, daß er mit Wirkung vom 3. Oktober als Chef der Volksmarine außer Dienst sei und als ziviler Berater für den Flottillenadmiral Horten zur Verfügung stehe.
Born versprach all sein Wissen und seine Kraft einzusetzen, um gerechte Lösungen bei der Eingliederung der Volksmarine in die gesamtdeutsche Marine zu finden. Wo dies nicht möglich sei, wolle er sich für einen sozial abgefederten Übergang der ehemals unterstellten Soldaten und Zivilbeschäftigten einsetzen. Mit der sachlichen Verantwortung wurde Kapitän zur See Klaus Karnowka beauftragt.
Anschließend lud Admiral Born zu einem kleinen Imbiss ein. Während des letzten Zusammenseins sprach ich einen Toast aus. Ich bedankte mich im Namen aller anwesenden Kommandeure für die gute Zusammenarbeit und für die erwiesene Unterstützung in der kurzen, aber nicht einfachen Zeit der gesellschaftlichen Wende in der DDR und in ihren Streitkräften.
Am 4. Oktober erfuhr ich, daß einige ältere Vorgesetzte durch den Befehl 43/90 des Ministers31, unter ihnen auch der Chef des Stabes, Konteradmiral Rolf Rödel, und der Chef der Rückwärtigen Dienste des KVM, Konteradmiral Gerhard Müller, nicht mehr im Dienst sein sollten. Sie wurden auch außer Dienst entlassen. Nach dem 3. Oktober 1990 gab es keinen diensttuenden General und Admiral der NVA mehr im neuen Zuständigkeitsbereich des Bundeswehrkommandos Ost. Der einzige General, den man mit seinem Dienstgrad in das Bundeswehrkommando Ost übernehmen wollte, war Generalmajor Kaden. In Anbetracht der Tatsache, daß er der einzige Vertreter der Generalität der Ex-NVA sein sollte, verzichtete er auf diese Ehre und wurde wie alle außer Dienst entlassen.
Zur Verabschiedung hatte der Kommandeur des MHG-18 aus Parow den Überflug mehrerer Staffeln Transport- und UAW-Hubschrauber über das Kommando beantragt und auf die Minute genau donnerten sie im Tiefflug über das Kommando der Volksmarine.
Ausmarsch der Truppenfahne
Anschließend fuhr ich nach Schwarzenpfost und bereitete mit dem Stabschef die letzte Musterung zur offiziellen Verabschiedung von der NVA, von der Volksmarine und von der DDR vor.
Am 2. Oktober trafen die Tagesbefehle gleich beider deutscher Verteidigungsminister ein. Stoltenberg hatte sein Fernschreiben 25 Minuten eher abgeschickt als Eppelmann. Aufmerksam las ich den letzten Befehl der NVA und anschließend den ersten der Bundeswehr.
Die letzte Musterung des Küstenraketenregiments sollte keine große Show werden. Kein ehemaliger NVA-Soldat wollte das. Ich glaube, es entsprach den Wunsch aller Angehörigen, verhalten und ohne großes Aufsehen Abschied zu nehmen. Trotzdem bestanden wir auf einer traditionellen Regimentsmusterung.
Es herrschte eine gedrückte Stimmung. Der Stabschef erstattete wie gewöhnlich die Meldung und wir schritten die Front ab, von der Regimentsfahne bis zum letzten Antreteblock mit den Zivilbeschäftigten. Zum letzten Mal stand ich vor dem Rest des Regiments, nicht einmal mehr 40 Prozent der Sollstärke. Die Zivilbeschäftigten stellten fast die meisten Musterungsteilnehmer. Neben der Truppenfahne sah ich Fregattenkapitän Peter Schwarz mit seiner Abteilung. Wir waren ein Einstellungsjahrgang und kannten uns sehr gut. Peter Schwarz war ein guter Kommandeur, prinzipienfest und gewissenhaft. Selbst seine zeitweilige norddeutsche Sturheit brachte mich niemals aus der Fassung. Neben ihm stand Andreas Herfter mit vierzehn Offizieren und Fähnrichen. Es war die 2. Küstenraketenabteilung – unsere Seniorentruppe. Sie verfügte annähernd über den gleichen Gefechtswert wie siebzig Mann einer herkömmlichen KRA.
Neben dieser Abteilung baute sich die stark reduzierte 1. Küstenraketenabteilung unter Führung des Fregattenkapitäns Domigalle auf: Offiziere, Fähnriche und Berufsunteroffiziere, dann die Unteroffiziere auf Zeit und die Matrosen. In der ersten Reihe standen Korvettenkapitän Schmidtke, Oberleutnant Uwe Walter, Oberleutnant Steinbach und andere. Dann folgte die nicht mehr große Truppe der Raketentechnischen Batterie unter Führung von Oberleutnant Rohde und die Reste der Rückwärtigen Dienste, geführt von Stabsobermeister Szillat. Neben den Uniformierten stand ein Teil der Zivilbeschäftigten.
Rechts von mir hatte der Stabschef und links von mir hatten die Stellvertreter für Ausbildung, Raketenbewaffnung, Technik sowie der Oberoffizier Kader Aufstellung genommen.
Ich verlas in der richtigen Reihenfolge die beiden Tagesbefehle, zuerst den von Eppelmann, dann den von Stoltenberg. Die Befehle waren gut ausformuliert, es gab nicht viel daran zu deuteln. Nur eine Passage schien mir sehr optimistisch. Es hieß dort, daß nicht alle Soldaten der NVA in die Bundeswehr übernommen werden könnten, und daß in den nächsten vier Jahren mit Entlassungen zu rechnen sei.
Offensichtlich hatte der Autor dieses Befehls vier Jahre mit vier Monaten verwechselt. Ein typisches Beispiel, wie man mit Hoffnungen, Zukunftsplänen und Idealen in dieser Zeit spielte. Wenn es hieß, »nicht wenige werden … ausscheiden«, konnten das die Soldaten der verschiedenen Gruppen unterschiedlich auslegen. Die Grundwehrdienstleistenden begrüßten dies vermutlich; Berufssoldaten wahrscheinlich nicht. Der oben erwähnte Zeitraum von vier Jahren war für Berufssoldaten meines Alters eine Mogelpackung. Das merkten zu diesem Zeitpunkt aber nur wenige. Viele, die die Dinge auf sich zukommen ließen, waren dann sehr überrascht über jähe Wendungen in der persönlichen Weiterverwendung. Kurzum, wir wussten zu keinem Zeitpunkt genau, woran wir mit den Aussagen und Befehlen waren, ahnten aber immer instinktiv, wie es möglicherweise ablaufen könnte.
Ich wollte nicht, daß Stoltenbergs erster Befehl die letzte Regimentsmusterung abschloss. Deshalb richtete ich ein letztes Mal als Kommandeur des Küstenraketenregiments der Volksmarine ein paar Worte an meine Unterstellten:
»Meine Damen und Herren !
Zum letzten Mal ist das Küstenraketenregiment der Volksmarine in seinem derzeitig stark reduzierten personellen Bestand angetreten.
Mit Übergabe der Truppenfahne am 7. Oktober 1984 entstand das Regiment und mit dem heutigen Ausmarsch der Truppenfahne wird es verschwinden.
Wenn am 3. Oktober 00.00 Uhr die DDR und die NVA aufhören zu existieren, so bleibt ein Teil von ihnen weiterhin bestehen – die Geschichte.
Zur Geschichte unseres Truppenteils gehören sieben Raketenschießabschnitte, bei denen 14 Raketen gestartet und vierzehnmal die Feueraufgabe erfüllt wurde. Für viele Berufssoldaten und Zivilbeschäftigte war das Regiment Arbeits- und Dienststätte, in der mit viel Zuversicht, Fleiß, fachlichem Können und Engagement alle anstehenden Aufgaben erfüllt wurden.
Auch die Unteroffiziere auf Zeit und die Grundwehrdienstleistenden waren stolz, zu dieser Waffengattung zu gehören, auch wenn sie das nicht immer gleich zum Ausdruck brachten. Wenn heute und morgen keine Raketen und Startrampen, die uns in den Jahren ans Herz gewachsen sind, gefragt sind, so bringen wir in die Vereinigung Deutschlands und deren Streitkräfte einen unschätzbaren Wert mit, den sich viele der Angehörigen noch gar nicht bewusst sind
– den Stolz auf die Küstenraketentruppen,
– das Zusammengehörigkeitsgefühl der Truppe und
– die Liebe zur Arbeit und zum militärischen Dienst.
Der 10. September – der Tag des letzten historischen Raketenangriffs des KRR – brachte wohl diese Tatsachen zum Ausdruck. Ich habe auf der Musterung dieses Tages, insbesondere vor allen Berufssoldaten, den ehemaligen Kommandeuren und Zivilbeschäftigten, meine Gedanken dazu geäußert.
Heute nehmen wir Abschied von der DDR und ihrer Armee. Der Abschied von Idealen, die sich als Illusion erwiesen, ist immer bitter und qualvoll. Und auch die Einsicht, daß der »Feind« nicht immer der Feind ist, braucht Zeit zum Reifen. Reifen müssen auch Einsichten, zu denen Sie sich durchringen und von denen Sie sich fortan leiten lassen müssen. Einsichten wie die, daß eine Armee allein der Verfassung und der darin festgeschriebenen freiheitlich-demokratischen Grundordnung verpflichtet sein muss und niemals wieder einer einzigen Partei, die von sich behauptete, das Monopol auf Wahrheit zu besitzen.
Nein, wir werden niemals ablegen können, was uns in den vergangenen 41 Jahren DDR prägte. Hieße das doch, uns selbst zu verleugnen. Schließlich klingt bei diesem Abschied von der Vergangenheit auch Wehmut an. Hatten wir doch mit diesem Land und seiner Armee unser Leben verbunden. Dieser Geschichtsabschnitt bleibt ein Glück unseres Lebens. Es lässt sich nicht einfach abschütteln, als wären wir nicht dabei gewesen. Eines stimmt, wir sind mit uns noch lange nicht im Reinen. Wir haben noch vieles mit uns auszumachen.
Es heißt, es wird nach dem 3. Oktober in den gesamtdeutschen Streitkräften keine Soldaten erster und zweiter Klasse geben. Möglich, daß das auch ein Umdenken bei jenen verlangt, die heute noch allzu schnell dazu neigen, aus der Sicht und in der Sprache des Siegers über uns zu urteilen, die wir dem Berufssoldatenstand der NVA angehörten. Wie sollte zusammenwachsen was zusammengehört, wenn fortan Misstrauen an die Stelle jener Mauer träte, die inzwischen weichen musste und der wir bei Gott keine Träne nachweinen.32
Auf Wunder zu hoffen nach dem 3. Oktober, das ist blauäugig. Unseren Menschen steht noch ein langer Weg bevor, bis wir dort angelangt sind, wo wir hinwollen. «
Dann kam der Moment, als das Fahnenkommando mit der Truppenfahne ausmarschierte. Es bestand aus zwei Offizieren und einem Fähnrich. Oberleutnant Wedler und Leutnant Tischer eskortierten mit den Paradesäbeln die Fahne, Fähnrich Frenzel trug sie. Der übliche Vorbeimarsch geriet diesmal kläglich. Die Truppe marschierte sang- und klanglos, ohne Paradeschritt, an der Truppenfahne und an uns vorüber. Das war’s. De facto sind die Soldaten von ihrem auf die DDR geleisteten Fahneneid entbunden.
Die Truppenfahne des Küstenraketenregiments stand bis dahin in einer Wandvitrine in meinem Dienstzimmer. Jeder, der zu mir kam, sah sie. Doch alle Truppenfahnen mussten nun auf Befehl des MfAV im Kommando der Volksmarine nach der Musterung abgegeben werden. Von dort aus gingen sie ins Armeemuseum nach Dresden, wo sie wahrscheinlich auch jetzt noch sind.
Diese Fahne hätte ich niemals abgeben dürfen, selbst wenn man mich deswegen entlassen hätte. Heute bereue ich das sehr. Kein Mensch interessiert dieses Banner mehr. Es ist registriert, eingemottet und liegt in einer schwarzen Plastikhülle. Für mich und besonders für meine Vorgänger war es ein Leben.
Mittwoch, der 3. Oktober 1990: Wie sollten wir diesen Tag begehen? Zu den Vorreitern der deutschen Einheit gehörten wir gewiss nicht, wohl aber zu den Verlierern. Unser Berufsleben und zum Teil auch unser politisches Schicksal besiegelte der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Und so begingen wir diesen Tag nicht überschwänglich, sondern mehr nachdenklich – ein besinnliches Beieinandersein unter Gleichen, ohne uns abzuschotten. Wir luden Kapitänleutnant Schiller und Fregattenkapitän Himmerkus aus dem Führungsstab der Marine des BMVg ein. Große Überredungskünste brauchte ich nicht, um diese Offiziere nach Schwarzenpfost zu bekommen. Ich begrüßte sie und wir fuhren zuerst in ihre Unterkunft zum Darßer Ort. Dort hatte ich für jede Familie einen Bungalow gemietet. Somit befanden sich das erste und wahrscheinlich das letzte Mal Offiziere der Bundesmarine in einem NVA-internen Erholungsgebiet. Unsere Gäste interessierten sich für die Technische Beobachtungskompanie und die Küstenbeobachtungsstation. Doch sie wollten weder eine Meldung vom »Noch-Diensthabenden« noch sich als neue Hausherren vorstellen.
Wir genossen lediglich aus der der Höhe die Landschaft um den Darßer Ort. Den Abend verbrachten wir in Witthagen, in einem Köhler- und Meilerhof. Mitternacht hörte die DDR, unser Vaterland, auf zu existieren. Ich sprach einen Toast aus und sagte, daß wir niemals vergessen werden, was wir waren, woher wir gekommen sind und brachte die Hoffnung zum Ausdruck, in der Bundeswehr, in die wir nun in einem gesonderten Verhältnis aufgenommen wurden, nicht zu Soldaten zweiter oder dritter Klasse abgestempelt zu werden. Es blieb ein frommer Wunsch. Auch Kapitänleutnant Schiller hielt eine kurze Ansprache und wünschte uns für die ungewisse Zukunft Glück und Gesundheit.
Am nächsten Tag bummelten wir durch die Hansestadt Stralsund und trafen uns am Abend zu einem gemütlichen Grillabend auf dem Darßer Ort. Dazu hatte ich auch die gesamte Unterstützungsmannschaft, die an diesem Tag in Warnemünde ankommen sollte, eingeladen.
Erstens bot dieser Abend die Möglichkeit, daß wir uns vor Beginn der Arbeit kennenlernen konnten, zweitens wollte ich das Heft des Handelns nicht aus der Hand geben. Immerhin besaß ich noch die Verantwortung für die mir unterstellten Soldaten und Zivilisten und konnte nicht zulassen, bei der Auflösung des Küstenraketenregiments eingeschränkt, ausgegrenzt oder bevormundet zu werden. Drittens wollte ich mehr darüber erfahren, wohin die gemeinsame Reise in der nächsten Zukunft gehen würde.
Doch meine Rechnung ging nicht auf. Die gesamte Unterstützungsgruppe, für die ich einen Kleinbus im Küstenraketenregiment bereitgestellt hatte, kam nicht zum Darßer Ort.
31 – Fernschreiben Marinekommando Rostock (MKR), Nr. 602 vom 2. 10. 1990
32 – Letzte Ausgabe der NVA-Wochenzeitung »trend«, Nr. 25/90, S.3.