“Eine Elite-Einheit der NVA rüstet ab” NVA-Waffen in aller Welt
Mehrere Jahre sind vergangen. Den nicht leichten Start ins neue Leben meisterte ich erfolgreich. Aber mein Bericht über das Küstenraketenregiment ist noch nicht ganz zu Ende. Sehr oft werde ich durch Zeitungen oder durch das Fernsehen oder durch Gespräche mit Bekannten und Freunden an das Küstenraketenregiment erinnert. Ich lese beispielsweise von Waffenverkäufen. Der israelische Geheimdienst Mossad übergab an die Hardthöhe einen Wunschkatalog und wurde dementsprechend beliefert. Einige Namen standen immer wieder in den Meldungen: Staatsminister Stavenhagen, Koordinator für geheimdienstliche Tätigkeiten im Kanzleramt, Stoltenberg, der ehemalige Bundesverteidigungsminister und der damalige Präsident des BND, Konrad Porzner. Vierzehn Waffenlieferungen aus Beständen der ehemaligen NVA, teilweise getarnt als landwirtschaftliche Geräte, verließen Deutschland. Die fünfzehnte flog auf. Stoltenberg musste unter anderem auch deshalb seinen Hut nehmen, die Staatsanwaltschaft Hamburg ermittelte gegen zwei führende BND-Angestellte. Die freiheitlich-demokratische Presse hatte ihre Arbeit getan. Das Waffengeschäft ging aber weiter. Alle Schiffe des Projektes 133.1 (NATO-Bez. PARCHIM-Klasse), insgesamt 16 kleine U-Boot-Abwehrschiffe mit einer starken Hauptbewaffnung, gingen an den Diktator Suharto in Indonesien.
Viele der 48 Minensuch-und Räumschiffe der Projekte 89.1 und 89.2 (NATO-Bezeichnung CONDOR-Klasse) kaufte Uruguay. Der Rest fährt in der Lettischen Flotte oder als Fischereiaufsicht in Malta.
Sieger testen unsere Raketen
Und was wurde aus der Operation »Tarantul/Rubesh«? Im Mai 1994 flog ich nach New York. Im Prospekt der Highlights 1993 bis 94 des »Intrepid Sea-Air-Space Museum« las ich, daß ein kleines Raketenschiff der Tarantul-Klasse aus dem Bestand der ehemaligen Volksmarine in New York festmachen wird. Offensichtlich waren die wehrtechnischen Untersuchungen in den Vereinigten Staaten von Amerika abgeschlossen. Nun zeigte man das Schiff als Siegestrophäe des Kalten Krieges in der Öffentlichkeit. Zeitweiliger Liegeplatz: in der Nähe des Passagierhafens der Elfmillionenstadt, neben dem Flugzeugträger »Intrepid« und dem U-Boot »Growler«.
Leider traf es dort nie ein, und ich konnte es nicht besichtigen. Es war die 572, die in der DDR-Volksmarine unter dem Namen »Rudolf Egelhofer« sich zuletzt im Bestand der 7. Raketenschiffsbrigade befand. Nach der Übernahme durch die Bundesmarine bekam es die Nummer P-6166 und natürlich den wertneutralen Namen – »Hiddensee«. Im November 1991 kam das Schiff für technische Auswertungen und Versuche an Bord des Heavy Lift Ship »American Cormorant« in die USA. Dort erhielt es am 14. Februar 1992 auf der Liste der Kriegsschiffe die Nr.185 NS 9201, wurde jedoch nicht offiziell in Dienst gestellt und bekam auch keine PT-Nummer. Im Juni 1995 unterstand es dem Naval Air Test Center in Patuxent, Staat Maryland.53
Durch Zufall entdeckte ich in der Zeitschrift »Norfolk Paper« ein Foto, auf dem das oben erwähnte Schwerlastschiff ein kleines Raketenboot im Huckepackverfahren transportierte. Die eigentliche Hauptbewaffnung, die Raketen mit den nicht zu übersehenden Startanlagen, wurde im Textteil nicht erwähnt. Der Redakteur qualifizierte es ganz einfach zum Kanonenboot. Ich erkannte aber das Raketenschiff sofort, da ich einst für die Raketen- und waffentechnische Sicherstellung dieses Schiffes sorgte.
Während meiner Reise sah ich es, trotz Ankündigung, nicht wieder. Enttäuscht besichtigte ich einen Flugzeugträger, eine Ansammlung von historischer Wehr- und Raumfahrttechnik und das U-Boot »Growler«, das als erstes amerikanisches U-Boot über nukleare Flügelraketen der Regulus-Klasse verfügte.
Mit der Rückkehr aus New York bereitete ich eine neue Reise in den Westen der Vereinigten Staaten vor, um unter anderem unsere Kampftechnik in den Versuchslabors der US-Navy wiederzusehen. Ich wollte wissen, was die mehrere Jahre dauernden Untersuchungen, Teststarts und die diversen Modifizierungen ergeben hatten. Nach den abwertenden Kommentaren der Bundeswehr fehlte mir die Bestätigung, daß diese Waffen für ihren vorgesehenen Einsatzort, der Ostsee, zweckentsprechende Gefechtsmöglichkeiten besaßen.
Sechs Jahre habe ich diese Raketentypen in der ehemaligen UdSSR studiert, und deshalb kannte ich den Wert dieser Waffen genau. Ich akzeptierte nicht die politisch gefärbte Einschätzung der Gefechtsmöglichkeiten.
Ich will an diesem Beispiel beweisen, daß nicht alles, was nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland verschrottet wurde, wirklich Müll war. Darüber hinaus soll meine Geschichte einen würdigen Abschluss finden. Zur Geschichte der deutschen Marine gehört auch die DDR.
Zurück zu den USA. Durch meine Kontakte zum Marineattaché der US-Botschaft erhielt ich die Genehmigung für einen Besuch des »Naval Air Warwara Center Weapons Division« in Point Mugu. Dieses militärische Objekt liegt in der Nähe der Stadt Oxnard, reichliche hundert Kilometer nördlich von Los Angeles, direkt an der Pazifikküste.
Als meinen Ansprechpartner nannte man mir Mr. Ron Brattin. Ihn kannte ich ja schon, setzte deshalb ein Fax an ihn ab und erklärte ihm meine Absicht. Ich erhielt keine Bestätigung. Das störte mich aber wenig, denn der Hauptzweck dieser Reise war ein dreiwöchiger Urlaub, der meine Familie und mich durch Kalifornien und Nevada führen sollte.
Russentechnik in Kalifornien
Nach unserer Ankunft in L.A. telefonierte ich mit Mr. Brattin. Wir vereinbarten einen Termin für den 3. April 1995 um 10 Uhr. Auf dem Highway N° 1 fuhren wir bis Malibu. Am nächsten Morgen stoppten wir auf die Minute genau vor dem Tor 3. Die Leute vom Sicherheitsdienst waren sehr freundlich. Nach 30 Minuten begrüßte uns ein gewisser Mr. Manley. Mit einem weißen bulligen »Ford«-Pick-up fuhren wir zur Security. Dort baten wir die Mitarbeiter vom Sicherheitsdienst, auch meinem Sohn André eine Berechtigungskarte auszustellen. Meine Papiere waren weitestgehend fertig, die Ausstellung der Berechtigungskarte für André dauerte natürlich noch etwas. Wir tranken eine eisgekühlte Cola und schauten uns die Luftbildaufnahmen von Pt. Mugu an. So konnte ich mich grob orientieren. Rings um den Eingang des Haupttores standen, wie in einem Freilichtmuseum, Raketen der unterschiedlichsten Klassen und Zweckbestimmungen: Hawk, Talas, Sparrow, Polaris, Regulus und andere.
Wir fuhren nun in die große Versuchs- und Testbasis der US-Navy und der Air Force, die Main Road entlang bis zur 13th Street. Dort sah ich ein großes Tanklager. Dann bogen wir rechts in die 13th Street ein. Viele Gebäude säumten die Straße. Ich meinte das Headquarter ausgemacht zu haben. In greifbarer Nähe sah ich eine »Phantom 2« starten. Steil, nahezu kerzengerade, schoss der Jäger mit einer starken Abgasfahne in den Himmel. Im Nordosten und Osten erblickten wir am Horizont die grünen Gebirgshügel der San Rafael und der Santa Monica Mountains. In südwestlicher Richtung bogen wir mehrmals links und rechts ab, bis wir plötzlich vor zwei Startrampen aus dem Küstenraketenregiment standen. Hier seid ihr also, dachte ich. Sofort fiel mir der schlechte Wartungszustand auf. Die SSR wirkten ausgeblichen. Wahrscheinlich standen sie hier schon längere Zeit. Auf der Stoßstange sah ich einen in Folie eingeschweißten Pass. Regenwasser war in die Hülle gelaufen. Mich hätte es gewundert, wenn es ein Kontrolldokument gewesen wäre. Es war der Pass für das Gerät 18, den Hydraulikblock der Startrampe, aufgeweicht durch Regenwasser. Weshalb nun gerade der hier hing, war mir unerklärlich. Es schmerzte mich, unsere ehemalige Technik in diesem Zustand zu sehen. Die Tür zur Gefechtskabine trug ein Vorhängeschloss.
Neben den beiden Startrampen standen ungefähr 25 Raketen im konservierten Zustand, sie waren mit einer Gummiplane luftdicht verschlossen und mit einer Persenning aus Leinen abgedeckt. Diese Raketen sahen nach ihrem äußeren Konservierungszustand katastrophal aus. Bei einigen Raketen fehlte schon die Segeltuchplane. Bei anderen war die Konservierung regelrecht aufgerissen. Man konnte den Raketenkörper sehen. Auf dem Erdboden lagen einige Gummiplanen. Ich guckte mir die Blaugel-Indikatoren hinter den Kontrollfenstern der Konservierung an. Sie signalisieren den Feuchtigkeitszustand in der Konservierung. Blaugel heißen diese kleinen Steinchen in der transparenten und mit kleinen Luftlöchern versehene Plastikfassung, weil sie eben blau sind. Steigt die relative Luftfeuchtigkeit, so verfärben sie sich rötlich. Wir kontrollierten den Zustand wöchentlich. Jede Rakete verfügt über fünf mit Gummiklappen versehene Schaulöcher, durch die man die Verfärbung begutachten kann. In diesen Indikatoren stand nun das Schwitzwasser, die Farbe war dunkelrot. Selbst nach so vielen Jahren regte sich in meinem Inneren etwas. Offensichtlich standen diese Raketen und die beiden Startrampen schon mehrere Monate an dieser ungeschützten Stelle.
Vieles an dieser Dienststelle erinnerte mich an sowjetische Verhältnisse. Aber selbst dort hatte ich Raketen in einem so katastrophalen Zustand nicht gesehen.
Manley Schloss eine werkstattähnliche Halle auf. Sie erinnerte mich an die Werkstatt 2 in Schwarzenpfost. Ich guckte nur hinein, machte ein paar Schritte in die Halle und erblickte weitere zehn bis fünfzehn Raketen. Gott sei Dank, diese Raketen standen wenigsten im Trockenen. Ich fotografierte und verließ die Halle. Manley rief die Sicherheitszentrale an, die offensichtlich dieses Gebäude nach unserem Verlassen distanziert wieder sicherte. Auch von den Startrampen mit den daneben hin geklatschten Raketen machte ich noch ein Erinnerungsfoto.
Dann fuhren wir auf der Beach Road weiter in östliche Richtung. Unser weißer Pick-up hielt vor mehreren Baracken, die in einer windgeschützen Senke genau in den Dünen vor der Brandung der Pazifikküste standen. Manley ging vorneweg und führte uns direkt zu Mr. Brattin. Dieser begrüßte mich freundlich, wir kannten uns ja von seinem Besuch in Schwarzenpfost.
Der wichtigste Teil meines Besuches begann mit einem Frage-Antwort-Spiel, wobei ich immer versuchte, die Fragen zu stellen. Obwohl ich eine Reihe spezieller englischer Fachwörter gelernt hatte, wirkte mein Redeschwall eher gebrochen. Hin und wieder musste ich nachfragen, manches Detail verstand ich nicht. Einiges erzählte Brattin von sich aus, so daß sich manche ungestellte Frage von allein beantwortete.
Natürlich interessierte mich das Untersuchungsprogramm zum Raketenkomplex »Rubesh«. Zirka 10 Prozent des gesamten Arbeitsaufkommens von Brattins Truppe beanspruchte die Küstenraketenbewaffnung der ehemaligen Volksmarine. Nicht wenig, wenn man bedenkt, daß sich die fünf bis acht Männer um Brattin schon seit Jahren mit dem »Tarantul/Styx Program«, das von der »Naval Sea Systems Command« gesteuert wird, beschäftigen. Die konkreten Aufgaben von seiner vorgesetzten Stelle konnte ich mir selbst zusammenreimen: Erstens: das waffentechnische Know-how für unterschiedlichste Zwecke ermitteln und dokumentieren. Zweitens: Testversuche mit telemetrischen Prüfverfahren durchführen. Drittens: Vorschläge und Versuche nach erfolgten Veränderungen von Einsatzparametern, besonders der Raketen, unterbreiten bzw. durchführen. Viertens: mögliche Nachbauvarianten erwägen und last but not least faktische Zieldarstellungen für den Waffen- und Elokaeinsatz der US-Navy und der Bundesmarine sicherstellen.
So präzise drückte sich Brattin nicht aus, er sprach lediglich von einem großen Informationsbedürfnis. Wessen Informationsbedarf zu decken war, davon sprach er auch nicht.
Ich spürte schon zu Beginn des Gesprächs, daß Brattin voll auf »Rubesh« stand. Umso mehr erstaunt war ich aber, daß erst sieben Raketen gestartet wurden. Ich hatte angenommen, daß die Raketen, die ich gerade gesehen hatte, die letzten waren, die in der kalifornischen Sonne vor sich hin standen. Brattin erklärte mir, daß jeder Raketenstart in letzter Instanz von dem zuständigen Bewilligungsausschuss des amerikanischen Parlaments genehmigt werden muss. Gedanken und Erinnerungen schossen mir durch den Kopf. Ich hörte gleich mehrere Stimmen von Bundeswehroffizieren, die sich fast vor Lachen gekrümmt hatten, als sie von den Zuteilungen für Dieselkraftstoff oder für Motorenstunden der Antriebsmaschinen der Schiffe und Boote der Volksmarine für die Seeausbildung, von der Limitierung von Granatpatronen für das Artillerieschießen oder von der Zuweisung der jährlichen Raketenstarts für den Schießabschnitt in der NVA hörten. Hier auf einmal, beim größten Verbündeten der Bundesrepublik und der mächtigsten Seemacht der Welt, hörte ich von analogen Sparsamkeitsprinzipien und Zuteilungsmentalitäten. Brattin beendete dieses Thema mit zwei Sätzen: »Hoffentlich wird in den nächsten Tagen Geld bewilligt, so daß wir vielleicht im September, spätestens im Oktober wieder schießen können. Sorry, wir könnten soviel machen, wenn ein bisschen mehr Money fließen würde«.
Die Arbeiten an »Rubesh«, schien mir, waren noch längst nicht abgeschlossen. Die ersten sieben Raketen starteten alle von San Nicolas Island in südöstliche Richtung. Das heißt, die Amerikaner transportierten die verschußbereiten Startrampen und alle dazugehörigen Mess-, Prüf- und Testeinrichtungen sowie diverse Aufzeichnungsgeräte auf die Insel San Nicolas Island. Von dort schossen sie die Raketen fast parallel zur Küste an der Insel San Clemente vorbei in den Golf von Santa Catalina. San Clemente Island ist genau wie die Startinsel militärisches Speergebiet. Von dort kann man bei guter Sicht große Teile des Raketenfluges beobachten.
Um die Startrampe und die gesamte Apparatur auf die ungefähr 35 Meilen vorgelagerte Insel San Nicolas überzusetzen, nutzen die Amerikaner auch NVA-Material. Sie entsorgten vermutlich aus den ehemaligen NVA-Kasernen mehrere Pontonelemente für die Seebrücken.
Die Volksmarine verwendete diese Teile u.a. für den Bau mobiler Anlegestellen. Ich erinnerte mich an einige größere Manöver und Mobilmachungsübungen, besonders der Operativen Rückwärtigen Dienste der Volksmarine, bei denen diese Seebrücken an verschiedenen Küstenabschnitten zum Einsatz kamen. Auf ihnen übergab man neben Treibstoff, Proviant auch Raketen, Torpedos und Minen. Jetzt befanden sich Teile dieser mobilen Seebrücken in Pt. Mugu. Auf Videos, die mir Mr. Brattin zeigte, sah ich sogar, daß sie daraus sogar eine Startplattform gebaut hatten.
Auf Farbfotos dokumentierten Brattins Mitarbeiter unterschiedliche Phasen des Starts. Ich erkannte auf einem Foto einen anderen Farbton der Abgasflamme beim Zünden des Marschtriebwerks. Sofort fragte ich nach dem Brennstoff. Brattin bestätigt mir, daß sie die größten Probleme damit hatten und auch noch haben. »Samin«, der Originalstoff ist dermaßen umweltschädigend, daß sie vermutlich von der amerikanischen Behörde gar keine Nutzungsgenehmigung erteilt bekamen. Oder sie hatten einfach die Treibstoffkomponenten mit dem Schiff nicht mitgenommen, weil sie zu gefährlich waren. Brattin zeigte mir Fotos von der Betankungsanlage. Während bei uns ein Unteroffizier (Mechanikermaat-Tankgruppenführer) und Matrosen (Mechaniker – Tankwart) die Raketen auffüllten, geschah das bei den Amerikanern mit einem Betankungsautomat. So etwas hatte ich noch nicht gesehen. War das nun eine automatische Betankungsanlage für ehemalige sowjetische Fla-Raketen oder eine amerikanische Erfindung?
Andere Fotos zeigten einen Salvenstart. Ich sah, daß die Außenhülle des Raketencontainers über große Flächen wie eine Pellkartoffel abgeschält war. Leider erkannte ich nicht die Ursache dieser recht eigentümlichen Beschädigung. Wurden womöglich durch technische Änderungen des Startzyklus’ bei einem Salvenstart vergessen, daß sich der Hangardeckel des benachbartem Raketencontainers nach erfolgtem Raketenstart automatisch nicht wieder verschloss?
Ich lenkte das Gespräch auf die aktiven und passiven Abwehrmaßnahmen der US-Navy gegen eine anfliegende P-21. Passive funkelektronische Gegenwirkung, also Düppelwolken, zeigten keine Wirkung auf die Rakete während ihres letzten Flugabschnittes, wenn der Suchkopf der Zielsuchlenkanlage zugeschaltet wird. Daß die Raketen darauf nicht reagierten, war mir schon seit Jahren bekannt.
Seitdem der FEK Bestandteil des Trainings eines Seegefechts geworden war, trainierten auch unsere Schlagkräfte die Gegenwirkung mittels Düppelwolken. Aber jedes Jahr erreichte man nur miserable Ergebnisse bei der Bekämpfung anfliegender Raketen. Es gelang niemals, eine P-15 oder deren Nachfolgerinnen durch passive Störungen von der Flugbahn abzulenken. Die US-Navy blieb dabei offensichtlich auch erfolglos.
Wie sah es bei den aktiven Störungen aus? Auch nicht besser. Lediglich in einem Fall gelang es den Amerikanern, durch aktive Gegenstrahlung eine Rakete abzuwehren. Wenn man berücksichtigt, daß nach mehreren Jahren gründlichster Laboruntersuchung im Prinzip alle theoretischen Probleme geklärt sein müssten und daß Zeitpunkt, Anflugrichtung und noch andere Parameter bekannt sind, kann sich die Navy nicht gerade auf die Schulter klopfen. Immerhin handelte es sich bei diesem Test lediglich um den Anflug einer einzelnen Rakete.
Drehe ich jetzt die Zeit zurück, setze also nicht das gesamte gewonnene und erforschte Know-how voraus und lege realistische Gefechtsbedingungen an, daß heißt Anflug von vier bis acht Raketen aus unterschiedlichen Richtungen zu unbekannter Schlagzeit, dann möchte ich nochmals die gefechtsnahe Treffer- und Vernichtungswahrscheinlichkeit für die amerikanischen Tests berechnen.
In all den Jahren, als diese Seezielraketenkomplexe in den Seestreitkräften des WP eingesetzt wurden, war das Know-how um sie größer als je zu vor. Nicht einmal die BRF, die Polnische Seekriegsmarine und die Volksmarine verfügten zu irgendeinem Zeitpunkt über solch detailliertes Wissen um die eigene Raketenabwehr wie zu diesem Zeitpunkt die Amerikaner über unsere P-21. Trotzdem waren die Abschußergebnisse der Amis um keinen Deut besser als die bei der Volksmarine.
Wenn ich Brattin richtig verstand, hatte die US-Navy also große Schwierigkeiten, russische Seezielraketen zu bekämpfen. Lediglich eine von fünf gestarteten P-21 konnte durch eine »Sea Sparrow« abgeschossen werden. Entweder lag der Ausbildungsstand nicht besonders hoch oder die P-21 waren sehr gut. Natürlich kannte man auch bei diesen Zieldarstellungen alle Parameter. Wir sagten in solchen Fällen: »Durch diese hohle Gasse Muss sie kommen! « Und trotzdem holte sie auch bei uns keiner vom Himmel.
Die wohl bedeutsamste Aussage machte Mr. Brattin, als er wie Sherlock Holmes auf die Ursachen der geringen Störanfälligkeit im funkelektronischen Bereich zu sprechen kam. »Wissen Sie, Mr. Gödde«, sagte er, und ich fühlte, daß er etwas Besonderes ausdrücken wollte, »niemals haben wir geglaubt, daß das Fenster der Zielsuchlenkanlage so gering sein kann. Das hat alle unsere Erwartungen übertroffen. «
In diesem Augenblick fühlte ich Stolz auf das, was ich einmal besessen hatte. Ich war glücklich darüber, es war für mich wie eine technische Rehabilitierung. Viele Gedanken, viele Gesichter passierten wie auf einem Filmstreifen mein Unterbewusstsein. Das letzte Bild zeigte die Israelis, die von der Vermutung her am nächsten dran waren. Sie wussten genau, was sie in Erfahrung bringen wollten. Seit der Versenkung des israelischen Zerstörers »Elat« durch eine P-15 im Jahr 1967 lagen erst jetzt abschließende Erkenntnisse über diese und alle Nachfolgeprojekte auf dem Gebiet der Elektronischen Kampfführung beim ehemaligen Gegner vor, obwohl die Aufklärungsschiffe der Bundesmarine und andere zu diesem Zweck eingesetzte Kräfte keine Möglichkeit ausgelassen hatten, entsprechende Informationen bei der Volksmarine zu sammeln.
Und ich hörte von Mr. Brattin gleich noch eine weitere Neuigkeit. Die Amerikaner erhielten ausschließlich die radargesteuerten Raketen vom Typ P-21. Wo blieben die infrarotgelenkten P-22? Offensichtlich interessierte sich die westdeutscher Seite mehr dafür. Deshalb der große Bauteilverbrauch der »Snegir«-Blöcke und die laufenden Anforderungen an Mess-und Prüftechnik für den Infrarotsuchkopf.
Ich erinnerte mich an zeitgeschichtliche Parallelen. Als Anfang der achtziger Jahre die ersten Raketen vom Typ P-22 bei der Volksmarine eintrafen, gingen, wie nach der Vereinigung, Muster, Bau- und andere Zubehörteile in die Abteilung I des VEB Kombinat Carl Zeiss Jena, also in den Bereich, der sich mit militärischen und rüstungsrelevanten Aufgaben beschäftigte. Wollte die DDR damals Raketen mit ähnlichen Wirkungssprinzipien bauen, unter anderem für die neuen Raketenschiffe vom Typ 151 oder wollte sie die vorhandenen nur technisch verbessern? Konkrete Trefferwahrscheinlichkeitsberechnungen dieses Raketentyps für den Ostseeeinsatz rechtfertigten jedenfalls nicht den gleichberechtigten Gefechtseinsatz der Infrarotraketen. In Spezialisten- und Fachkreisen unterhielt man sich jedenfalls darüber. Von der Rückführung der P-22 wurde gemunkelt. Trotzdem wurde das Raketenschießen mit P-22 nie eingestellt.
Als ich mir in den USA die Fotos anschaute, bemerkte ich Unmengen an Kabel, die größtenteils aus der Gefechtskabine der SSR kamen. Es sah so aus, als wenn in der Gefechtskabine das Fernsehen eine Direktübertragung veranstaltete und der Ü-Wagen sich in der Nähe des Aufnahmeortes befände. Aber dem war nicht so. Die Amerikaner hatten lediglich Angst, den Start aus der Gefechtskabine durchzuführen. Warum konnte ich nicht nachvollziehen. Besaßen sie kein Vertrauen in die Russentechnik, verfügten sie über schlechte Erfahrungen, gab es Vorschriften, die das nicht zuließen oder lag ihre Zurückhaltung vielleicht am selbstgepanschten Raketentreibstoff?
In dieser Beziehung gab es bei uns damals keine Befürchtungen. Mir ist kein Vorfall bekannt, bei dem während eines Raketenstarts von Bord eines Kampfschiffes oder von einer Startrampe das schießende Personal irgendwelche Schäden oder gesundheitliche Beeinträchtigungen erlitten hatten.
Ich selbst war beim letzten Raketenschießen als Kontrolleur auf der SSR 221 eingesetzt. Das Gefühl ist einmalig. Wenn der Raketenwaffenleitmaat den Startknopf drückte, passierte erst einmal ein, zwei Sekunden gar nichts. Erst dann gab es einen lauten Knall, als ob ein riesiger Vorschlaghammer gegen den Container schlüge, dann krängte in einer seichten Auf- und Abwärtsbewegung die gesamte Startrampe und das war‘s auch schon. Den Startknall einer in unmittelbarer Nähe schießenden Startrampe hörte man nahezu doppelt so laut.
Brattin wunderte sich sichtlich, konnte es nicht so richtig fassen, daß bei uns in der Gefechtskabine vier Soldaten saßen und im Fahrerhaus sogar der Rampenfahrer verblieb. Bestimmt hätte Frank Hösel ihm viel mehr darüber erzählen können, denn er war bei fast allen Raketenschießen dabei gewesen.
Brattin und ich sprachen nun über die ehemaligen NVA-Angehörigen, die sich zeitweilig in Pt. Mugu aufgehalten hatten. Von der RTA Tilzow kannte er die zwei Raketenspezialisten Harald Heß und Ralf Kardner und den RT-Spezialist Maat Kähler. Aus dem ehemaligen Küstenraketenregiment: Korvettenkapitän Frank Hösel, Hauptbootsmann Gerd Höne und den zivilbeschäftigten Kfz-Schlosser Suhrbier. Letzterer zog sogar für diese Dienstreise eine Uniform an, sonst hätte er an diesem Vorhaben von Amts wegen gar nicht teilnehmen können.
Der Weg der Startrampen, der Raketen und der gesamten Zubehörtechnik war sehr lang, es dauerte Monate, bis alles mit dem Ro-Ro-Schiff »American Condor« in Pt. Mugu eintraf. Vier Startrampen, ein KIPS, ein Neutralisations- und Löschfahrzeug vom Typ 8T311 M und ein Raketentransportfahrzeug Sil 131 standen auf Eisenbahnwaggons. So sah ich es auf einem Videoclip. Worin die Raketen transportiert wurden, konnte ich nicht ermitteln. Ich nehme an, sie befanden sich in den Startrampen, auf den Transportfahrzeugen und in den besagten Holzcontainern.
Auf diese Fracht warteten die ehemaligen NVA-Angehörigen in Pt. Mugu erst einmal vergeblich. Als sie nicht kam, flogen sie erst einmal wieder zurück. Erst beim zweiten Anlauf klappte es. Gerd Höne war da schon nicht mehr dabei. Ihm hatte ich zwischenzeitlich eine Stelle als Techniker in meiner neuen Arbeitsstelle vermittelt. So blieb nur Frank Hösel von Schwarzenpfost übrig, und der wollte ja schon wegen seines noch laufenden Studiums so lange wie möglich dabei bleiben.
Brattin erzählte mir auf einmal etwas vom letzten Kommandeur des Küstenraketenregiments. Ich hatte mir immer eingebildet, dieser gewesen zu sein. Doch mich meinte er offensichtlich nicht. Und so hörte ich, daß der Leiter der deutschen Spezialistengruppe, die den Amerikanern das Raketenschießen mit »Rubesh« beigebracht hatte, ein Oberstleutnant der Bundesluftwaffe gewesen sei. Dieser Flieger, Verbindungsoffizier und Dolmetscher im wahrsten Sinne des Wortes, suggerierte der amerikanischen Seite, er sei der letzte Kommandeur des Küstenraketenregiments gewesen. Und er soll sogar Stolz darüber gezeigt haben. Offensichtlich fand dieser Bundeswehroffizier unsere Raketentechnik so gut, daß er sich damit brüstete.
Erkenntnisse der Vector Group
Mr. Brattin schenkte mir eine Reihe von Fotos und lud mich ein, zur »Vector Group« zu fahren. Ich wusste zwar nicht, wer oder was Vector bedeutet, aber man kann ja mal hinfahren, wenn man so herzlich dazu eingeladen wird. Wir verließen die Baracken nahe dem brandenden Pazifik, stiegen in das Auto und fuhren geradewegs zum Tor 3. Dort wartete meine Frau in unserem Leihwagen. Wir fuhren nun, vorbei an riesigen Erdbeerplantagen, in Richtung Oxnard.
Mitten im Ort gingen wir in ein von außen ganz normal aussehendes Wohnhaus. Doch als wir den Innenhof betraten, standen wir in einer Werkstatt für Elektronik. Ich sah einige unserer Raketen und rechter Hand auch eine Startrampe. Die passte hier so gar nicht hin. Also hier arbeitete die »Vector Group« am »Tarantul/Styx Program«. Später erfuhr ich, daß dieses Labor zur »Missile System Group« gehört. Ein Herr im Anzug und Krawatte und ein zweiter in einem gestreiften Hemd, ebenfalls mit Krawatte, begrüßten uns freundlich. Überall standen elektronische Messgeräte, Kabel hingen herum. Bei einer Rakete waren alle Luken geöffnet, auch da hingen Kabel heraus, die zu einer Vielzahl von Messgeräten führten.
Wir gingen in einen Besprechungsraum. Ein Fernseher stand an der Wand. Ich fühlte mich wie ein Kunde in einer Elektronikwerkstatt. Wir schauten uns ein Video über die praktischen Raketentests in San Nicolas Island an. Brattin und die anderen beiden Herren erläuterten die Bilder. Sie hatten die Raketen beim Start von allen Seiten aufgenommen, teilweise in Zeitlupe. Während des Fluges hatten sie von Bord einer F-15 gefilmt. Auf dem Bildschirm konnte ich die vorgegebene Flugbahn mit der tatsächlichen vergleichen. Jede Abweichung von den vorgegebenen Flugbedingungen und Flugparametern hatten die Versuchsingenieure mittels telemetrischer Flugbahnverfolgungstechnik festgehalten und kommentiert. Offensichtlich steckte viel Arbeit in diesen Untersuchungen.
Später auf dem Hof, wir gingen zu den Raketen, erzählten mir die Amerikaner von ihren Ergebnissen und von der Arbeit in der »Vector Group«. An vielen Stellen der Startrampe bemerkte ich ausgebaute Baugruppen, überall hingen Mess- oder andere Kabelverbindungen herum.
Drei oder vier Startrampen, so hörte ich, befinden sich an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Ich vermutete, daß sie sich ebenfalls im »Naval Air Test Center« von Patuxent (Maryland) standen, dort, wo die US-Navy die »Hiddensee« unter die Lupe nahm. Die tatsächliche Anzahl der Startrampen, über die die USA jetzt verfügten, konnte oder wollte mir keiner nennen.
Vereinbarungsgemäß hatten wir damals 25 Raketen zur Luftzieldarstellung für die Bundesmarine vorbereitet. Den Preis dafür hatten wir NVA-Soldaten bezahlt, mit der Aufgabe unseres Berufslebens. Die Regierung meines neuen Vaterlandes hatte also alles verschenkt, was die Amerikaner haben wollten und sich so eine Option auf 25 Raketendarstellungen verschafft. An die Möglichkeit, die Raketen wirklich wirksam zu bekämpfen, glaubten sie sowieso nicht so richtig.
Nach meinen bisherigen Kenntnissen fanden aber keine Abwehrübungen auf sowjetische Seezielraketen im Seegebiet Roosevelt Roads (Puerto Rico) statt.
Eine Startrampe befand sich zum Zwecke von Versuchen und Untersuchungen im Vereinigten Königreich von Großbritannien.
Eine weitere Startrampe befand sich in den WTD des BWB. Eine Startrampe steht im heutigen Militärhistorischen Museum der Bundeswehr (nicht in dem der NVA) in Dresden. Die zehnte und letzte SSR soll in Israel sein. Genaue Angaben liegen mir nicht vor.
Ich hatte hier in den USA alle Mühe, die neuen Eindrücke aufzunehmen und zu speichern. Wir verließen wieder den Hof und gingen zurück in die Werkstatt. Dort lötete ein Techniker an einem elektronischen Bauelement.
Ein leitender Ingenieur zeigte mir diverse Telemetrieantennen, kleine metallisch blanke Stummel an verschiedenen Stellen der Außenhaut der Rakete. Damit wurden alle Flugparameter an die Bodenstation übermittelt und mit der vorgegebenen Flugbahn verglichen. Ein Ingenieur berichtete stolz, daß sie die Flugbahn der P-21 auf 15 Meter gesenkt hätten. Früher betrug die Flughöhe der Raketen entweder 50 oder 25 Meter.
Der gesamte Flug wird durch den Autopiloten gesteuert, der mit dem Radiohöhenmesser und im letzten Flugabschnitt mit der Zielsuchlenkanlage zusammenwirkt. Durch Veränderung dieser festeingestellten Parameter wird die durch den Autopiloten, im Zusammenwirken mit dem Radiohöhenmesser und der Zielsuchanlage, gesteuerte Rakete für gegnerisches Abwehrradar noch schwerer unfassbar. Die Zeit für die aktive oder passive Gegenwirkung sinkt noch weiter.
Es gibt in den amerikanischen, russischen und in einigen wenigen anderen Flotten der Welt Raketen, die in einer Höhe von drei bis fünf Metern Höhe mit Schallgeschwindigkeit über der offenen See fliegen können. Sie sind aber wesentlich kleiner. Es gab zu jener Zeit aber keine taktische Seezielrakete dieser Gewichtsklasse, die man unter die Zehn-Meter-Marke drücken konnte.
Mitten in einer kalifornischen Kleinstadt arbeitete man offensichtlich mit Hochdruck an diesem Problem. Im Gegensatz zu den Deutschen versprachen sich die Amerikaner offensichtlich etwas von der sowjetischen Hochtechnologie. Ideologische Vorurteile, wie sie ihre bundesdeutschen Verbündeten permanent zum Ausdruck brachten, hatten die nicht. Sie schätzten die ausgefeilte Technik und wo etwas herauszuholen war, forschten und bastelten sie, was das Zeug hielt. Selbst die Prüf- und Kontrollapparatur DK-150 war komplett auf Englisch umgestellt. Die kyrillischen Buchstaben hatten sie mit englischen sauber und akkurat überklebt.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, genug gesehen zu haben. Ich wollte nicht mehr, mich zog es zum Ausgang. Mir reichte es auf einmal. Fast zwei Stunden dauerte nun schon meine Reise in die Vergangenheit, die sich als sehr futuristisch herausstellte.
Ich bedankte mich bei Ron Brattin. Unser Auto stand in der richtigen Fahrtrichtung, ich gab Gas, Oxnard lag hinter uns. Wir fuhren wieder vorbei an riesigen Erdbeerfeldern, auf denen mexikanische Tagelöhner mit vollen und mit leeren Körben über das Feld rannten. Ich fuhr auf einen kleinen Feldweg, suchte im Autoatlas den nächsten Streckenabschnitt. Meine Frau und mein Sohn pflückten ein kleines Körbchen großer kalifornischer Erdbeeren. Sie schmeckten nach gar nichts. Wir fuhren wieder auf den Highway N°1 in Richtung Malibu-L.A., vorbei an den vielen Raketenattrappen.
53 – Koop/Breyer, »Die Schiffe, Fahrzeuge und Flugzeuge der deutschen Marinen von 1956 bis heute«, Bernard & Graefe Verlag, S. 501.
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