“Eine Elite-Einheit der NVA rüstet ab” Das Nachkommando
Daß die Küstenraketen verschwinden werden, das war nun allen bekannt. Ob die Dienststelle Schwarzenpfost als militärisches Objekt für andere Teilstreitkräfte, Waffengattungen oder Dienste ein Interesse darstellte, vermochte keiner einzuschätzen und festzulegen. Im Dezember 1990 verschärfte sich das Chaos durch ein Versehen. Im Heereskommando Ost in Potsdam erhielt die Dienststelle Schwarzenpfost den Vermerk »dN« – dauernde Nutzung. Erst in der letzten Dekade Januar 1991 entdeckte man diesen Fehler, änderte ihn in »dE« – dauernd entbehrlich. Kapitän Linde verstand in dieser Zeit seine eigene Arbeit nicht mehr, auflösen oder aufbauen?
Der Funken Hoffnung glimmte also immer noch, auch wenn viele sich schon anderwärtig interessierten. Wäre das Versehen in der Signatur in der Dienststelle Schwarzenpfost bei den Zivilbeschäftigten publik geworden, wäre ein Hoffnungsfeuer daraus geworden. Die Kündigungen wurden deshalb, obwohl sie laut Fahrplan schon längst überfällig waren, zugunsten der Zivilbeschäftigten zurückgehalten. Die Entlassungen verliefen etappenweise, je nach Notwendigkeit. Als Grundlage gelten dabei die Arbeitsverträge mit den vereinbarten Kündigungsfristen laut Arbeitsgesetzbuch (AGB) der DDR. Die Aushändigung der Kündigungen erfolgte durch die StOV, was letztendlich so aussah, daß die Kündigungen gesammelt, für jeden Bereich getrennt, mir von der Unterstützungsgruppe übergeben wurden und ich, wie gehabt, die Ehre hatte, sie persönlich den entsprechenden Mitarbeiter(-innen) zu übergeben. In Vorbereitung dieser Maßnahme fand eine Besprechung mit den Zivilbeschäftigten statt, auf der einige Empfehlungen im Zusammenhang mit den bevorstehenden Entlassungen mitgeteilt wurden. Die erste war die pauschale Aussage, daß der Truppenkörper aufgelöst wird und daß auf keine Wunder gewartet werden sollte. Die Entlassungen sollten von beiden Seiten vorbereitet und durchgeführt werden. Es wurde als sinnlos eingeschätzt, auf die »blauen Briefe« zu warten und dann erst zu handeln. Weiterhin wurde großzügige Unterstützung für Freistellungen zur Arbeitsbeschaffung oder zur Teilnahme an Fahrschulen unter Beibehaltung der Erfüllung notwendiger und wichtiger Arbeitsvorgänge gewährt. Begonnene Arbeiten sollten abgeschlossen werden. Übergaben materieller Mittel an das Nachkommando sollten organisiert ablaufen. Es wurde angeraten, mit aller Anstrengung einen neuen Arbeitsplatz zu suchen und nicht durch die Instanzen der Arbeitsgerichte zu gehen. Neubewerbung und Kündigung sollte als parallele Prozesse angesehen werden.
Für Frau Domigalle und Frau Peters musste ein Antrag an die Hauptfürsorgestelle durch die StOV bezüglich ihrer Weiterbeschäftigung gestellt werden, da sie als behinderte Personen eingestuft waren. Der Gesetzgeber schreibt bei der Kündigung eines Behinderten vor, daß innerhalb von zwei Wochen, nachdem der Arbeitgeber (StOV) den Kündigungsgrund festgestellt hat, er bei der Hauptfürsorgestelle die Zustimmung zur Kündigung einholen Muss. Um weitere Fragen zu klären, sollten sich die Zivilbeschäftigten vertrauensvoll an Regierungsoberinspektor Knuth wenden. Das war die Einstimmung.
Am 27. Februar 1991 bat ich alle Wachmänner zu mir, um ihnen zu kündigen. Vor einem Jahr war ich froh gewesen, diese Männer einstellen zu können, nun musste ich sie nach engagiertem und problemlosem Dienst entlassen. Dabei waren die sicherheitspolitischen Bedingungen komplizierter und brisanter geworden.
Und es handelte sich nicht nur um junge Wachmänner, sondern auch Menschen, die schon das 50. Lebensjahr überschritten hatten. Auf dem freien Arbeitsmarkt galten diese Männer als nahezu unvermittelbar. Mit einer gehörigen Portion Fassung bestätigten sie den Empfang der Kündigung und gingen wieder auf Wache bzw. fuhren nach Hause. Die meisten Entlassungen wurden unter Berücksichtigung der Kündigungsfristen erst nach einem Vierteljahr rechtskräftig. Ähnlich verlief es in den anderen Bereichen.
Unsere Mitarbeiter des medizinischen Dienstes wurden genauso wie die der Verpflegungssicherstellung erst bei der Verabschiedung der Grundwehrdienstleistenden entlassen. Wir ließen uns alle noch die Zähne von unserer Zahnärztin Frau Dr. Schmidt behandeln, und dann war auch das Geschichte.
In den darauffolgenden Wochen und Monaten trat bei diesem und jenem eine unerwartete und positive Wende ein. Herr Knuth und Herr Linde vermittelten einigen eine Anstellung in benachbarten Dienststellen, die, nachdem das Aufstellungskonzept durch Stoltenberg abgesegnet war, neu errichtet wurden. So übernahm das Marinesicherungsbataillon in der Kopernikusstraße in Rostock fast das gesamte Küchenpersonal. Auch aus dem Unterkunftsdienst wurden, nachdem der Materialabschub des gesamten Regiments abgeschlossen war, viele Zivilbeschäftigte in Sanitz, in der StOV und im Marinestützpunktkommando Warnemünde eingesetzt. Mancher ging aber den schweren und ungewohnten Weg über das Arbeitsamt und über die Arbeitslosigkeit.
Die nächsten Tage verliefen ohne große Aktivitäten, deshalb fasse ich sie tagebuchmäßig und im Telegrammstil zusammen:
- Februar 1991. Die Gebrüder Carsten und Uwe Walter erhalten ihre Bestätigung als SaZ-2. Dem älteren Bruder wird ein Dienstposten in einem Verteidigungskreiskommando (VKK) angeboten. Kapitänleutnant Walter und sein Bruder lehnen beide das Angebot vom Bundeswehrkommando Ost ab. Vom amerikanischen Zigarettenhersteller Reynolds lag ein besseres Angebot vor. Es geschieht recht selten, daß jemand sich zwischen zwei Angeboten entscheiden konnte.
- Februar 1991. Fregattenkapitän a.D. Münch berät mit uns, wie in der Endphase die Verpflegung gewährleistet werden soll und wie nicht mehr benötigte materielle Mittel abgegeben werden können.
- Februar 1991. Entsprechend einer zentralen Weisung müssen nach der ZDv 43/1 und ZDV 43/2 alle ehemaligen Militärkraftfahrer der NVA und auch die Nutzer (Fahrzeugverantwortlichen) auf die neuen Bestimmungen des Kraftfahrdienstes der Bundeswehr umgeschult werden. Ein gefundener Anlass für mich, einen kleinen check-up von den Portepéeunteroffizieren zu machen.
Wie oft hatte ich gehört oder gelesen, daß die NVA viel zu viele Offiziere habe, weil diese größtenteils die Arbeit der Unteroffiziere machen müssten. Die seien nicht so intelligent, ja nur Dispositionsmasse oder Erfüllungsgehilfen des Offizierskorps gewesen. Auf solche Äußerungen reagierte ich allergisch. Woher nahmen die westdeutschen Feststeller und Besserwisser so viel Arroganz her, über eine ganze Dienstgradgruppe so pauschal zu urteilen. Natürlich gab es auch manchen »Blindfried«, der sich nur verpflichtet hatte, weil er im Zivilleben nichts ausrichten konnte. Diese Typen gibt es in jeder Armee, egal ob heute oder früher.
Also denke ich mir, jetzt möchte ich es aber mal genau wissen. Oberbootsmann Radtke von der Unterstützungsgruppe, ein sehr ruhiger, ausgeglichener Berufssoldat, der auf verschiedenen Dienstposten und in mehreren NATO-Ländern gedient hatte und ein gutes Englisch sprach, soll auf meine Empfehlung die Unterweisung durchführen. Anschließend befrage ich meine Berufsunteroffiziere, wie sie diese Unterweisung bewerten. Viele von ihnen waren Fahrlehrer und Hilfsfahrlehrer, hatten ihren Job von der Pike auf gelernt und Tausende Fahrstunden auf dem Buckel. Ich fühle mich in meiner Meinung bestätigt, daß unsere Unteroffiziere genauso viel auf dem Kasten hatten wie die Unteroffiziere der Bundeswehr. Es gibt also keinen Grund, sich herablassend und disqualifizierend über die NVA-Unteroffiziere zu äußern.
- Februar 1991. Ich erfahre, daß im Bw.-Kdo Ost eine Logistikbrigade aufgestellt werden soll. Trotz bekannter Telefonnummer bringe ich nichts in Erfahrung.
- Februar 1991. Oberleutnant Winkler wird zu einem Lehrgang an die Marineschule Mürwick bis zum 8. 3. 1991 kommandiert. Für den 5. März meldet sich das WTD-91 bei uns an. Zelte und Zeltzubehör werden zur Abverfügung vorbereitet.
- Februar 1991. Hauptbootsmann Höne bringt wieder angeforderte Teile für Raketen sowie Zubehör mit einem W-50 zur WTD-71 nach Eckernförde. Nach Warnstorf, der ehemaligen Führungsstelle der Rückwärtigen Dienste der Volksmarine, werden Geräte, Ausrüstungen und alle materiellen Mittel des Chemischen Dienstes abtransportiert.
Die neuen Kommandeure
- März 1991. Heute ist wieder Kommandeursberatung im Marinekommando. Ich bin etwas eher da und erkundige mich in der Personalabteilung nach Planstellen, die für mich persönlich im neuen Stellenplan von Interesse sein könnten. Man gibt mir das Dokument »Stellenwechsel Marine 04/91 für Offiziere der ehemaligen NVA vom 15.02.91« und ich blättere darin.
Im Marinekommando gab es insgesamt 19 Offiziersplanstellen, davon eine für einen Fregattenkapitän, im zukünftigen Marinestützpunktkommando Warnemünde neun, sechs davon waren bereits besetzt, im Marinestützpunktkommando Peenemünde sechs, im Marinemunitionsdepot sieben.
Im Weiteren liste ich alle Offiziersplanstellen auf, die in diesem Plan für die neue Marine in Ostdeutschland vorgesehen waren:
Marineinstandsetzungskompanie-3 3
Marinetransportbataillon 3
Marinematerialabschubdepot 4
Marinematerialdepot 5
Marinetransportkompanie-3 3
Marinesicherungsbataillon-3 6
Marinesicherungskompanie-1 2
Marinesicherungskompanie-2 3
Marinesicherungskompanie-3 3
Marinefernmeldeabschnitt-3 4
Marinefernmeldekompanie-31 4
Marinefernmeldekompanie-31 5
Zählt man alle Offiziersdienstposten zusammen, kommt man auf genau 86 Planstellen. Als sonstige, nicht weiter aufgeschlüsselt, tauchten noch weitere 37 auf, insgesamt blieben also vorerst 123 Dienstposten für ostdeutsche Marineoffiziere. 95 Prozent der Offiziere der ehemaligen Volksmarine wurden also entlassen. Einzelne setzte man außerhalb der Marine ein. Namentlich waren das:
Korvettenkapitän Stemke ins Deutsche Verbindungskommando Sowjetische Streitkräfte,
Korvettenkapitän Dauer ins Referat P in Außenstelle BMVg Strausberg,
Kapitänleutnant Lukoschat ins VBK-71 (Dresden),
Kapitänleutnant Jaeckel ins VBK-84 (Potsdam),
Kapitänleutnant Köstling ins VKK-732 (Jena),
Korvettenkapitän Roetzsch ins VKK-822 (Stendal).
Da die Bundesmarineführung nicht einschätzen konnte, wie schnell der gesamte Materialabschub abgeschlossen würde, führte man die sogenannten SaZ-2-Schlüssel ein. So hielt man sich zeitweilig eine Reserve mit 52 ehemaligen Marineoffizieren mit dem Schwerpunkt Raketentechnik und Munition. Man wusste schon warum.
Natürlich bekamen ganz junge und unbelastete Offiziere bis maximal Dienstgrad Kapitänleutnant die Chance, über eine seemännische Laufbahn in der Bundesmarine Fuß zu fassen. Die Kandidaten »gauckte« man in den folgenden zwei Jahren. Schwund war natürlich eingeplant. Jeder fähige Vorgesetzte schafft sich natürlich Reserven, um im Bedarfsfall Ersatz zu haben. Das war also unter Abrüstung, Umstrukturierung und Neuaufbau ostdeutscher Seestreitkräfte zu verstehen. Beim Heer und bei der Luftwaffe sah es bestimmt nicht besser aus.
So eingestimmt ging ich zur Kommandeursbesprechung in das Nebengebäude, in dem einst die ehemaligen Chefs der Volksmarine mit ihren unmittelbaren Stellvertretern residierten.
Die Besprechungen fanden im gleichen Auditorium statt, in dem früher der jeweilige Chef der Volksmarine mit seinen direktunterstellten Kommandeuren und seinen Stellvertretern zusammenkam. Auch der Militärrat tagte in diesem großzügig angelegten Besprechungsraum. Die Anzahl der Kommandeure war zusammengeschrumpft. Für Kapitän zur See Koch (Schiffsstammabteilung-18), Konteradmiral Kahnt (Offiziershochschule Stralsund) und für den Konteradmiral Nitz gab es nur noch einen Vertreter, den Kapitän zur See Petersen. Er löste in kürzester Zeit alle drei Stralsunder Marineschulen auf. Den Aufbau der Marinetechnikschule in Parow übernahm in der Folgezeit Fregattenkapitän Gerd Sommer als Leiter des Aufbaustabs. Anstelle von Kapitän zur See Murzynowski kam der Leiter der Unterstützungsgruppe Kapitän zur See Kuballek mit Korvettenkapitän Schwarz, einst Brigadechef der 7. Raketenschiffsbrigade.
Von der 1. Flottille kamen Kapitän zur See Leupold und der Leiter der Unterstützungsgruppe Kapitän zur See Siebert. Das ehemalige Hubschraubergeschwader MHG-18 vertrat Fregattenkapitän Wilhelm. Anstelle von Kapitän zur See Fechtner von der 4. Flottille kam nun der neue westdeutsche Kommandeur, Kapitän zur See Kämpf. Flottillenadmiral Horten saß auf dem Platz des früheren CVM, rechts neben ihm saßen entweder sein Chef des Stabes, Kapitän zur See Ribbrock oder Kapitän zur See Wiese. Dort war früher der Platz von Konteradmiral Rödel. Kapitän Eicke und ich vervollständigten die Runde. Ich nahm meinen gewohnten Platz ein.
Auf einer der letzten Besprechungen war uns mitgeteilt worden, daß das Bw.-Kdo.Ost zum 30. Juni 1991 in die dezentralen Strukturen der Bundeswehr übergeht. Die Auflösung der NVA galt mit diesem Datum offiziell als abgeschlossen. Gleiches erwartete das Marinekommando Rostock, es wurde dem Marineunterstützungskommando unterstellt.
Es bestanden also keine Strukturen der Volksmarine mehr. Formal löste man deshalb alle ehemaligen NVA-Dienststellen zum 31. März 1991 auf.
Noch bestehende Einheiten hießen bis zur vollständigen Auflösung Nachkommandos. Aus der 4. Flottille wurde also das Nachkommando der 4. Flottille und daraus entstand das Marinestützpunktkommando Warnemünde. Auf dieser Kommandeursbesprechung hörten wir auch, daß ab 4. April 1991 Flottillenadmiral Horten seine Dienstgeschäfte an Flottillenadmiral Ciliax übergeben wird.
In allen Besprechungen bei Admiral Horten fühlte ich mich locker. Ich brauchte mich nicht auf irgendeinen Sachverhalt vorzubereiten. Ich konnte nichts falsch machen, mich aber auch nicht profilieren. Bei Born hatte ich Betätigungsfelder, in denen ich arbeiten und mich beweisen musste. Wurden neue Dienststellen errichtet, profilierten sich in den Kommandeursfunktionen westdeutsche Offiziere. Für Offiziere aus dem Osten gab es also nichts zu verlieren, denn wir hatten ja alles schon verloren, und es gab nichts mehr zu retten. Auseinandersetzungen, Streitgespräche oder Wortgefechte erlebte ich in dieser Runde nie.
Nach dem Jahreswechsel entspannten sich die westdeutschen Bundesmarineangehörigen zusehends. Bis dahin dominierten bei ihnen verdeckte Zweifel und zaghafte Zurückhaltung. Als es nur noch Nachkommandos in der ostdeutschen Flotte gab, wirkten sie sicherer, nichts konnte sie mehr aus der Ruhe bringen. Wir mussten diese an bürokratische Trägheit grenzende Gelassenheit ertragen oder den Finger heben, um mit einem besseren Vorschlag unsere Dienststelle einen Monat vorfristig aufzulösen. Aber keiner aus dem Osten wollte das. Also ertrugen wir den gemächlichen Ablauf. Die Ruhe war diesen Soldaten scheinbar anerzogen worden. Uns ehemalige NVA-Offiziere irritierte das. Geistige Operativität und physisches Durchhaltevermögen vermisste ich vollends.
Auf den ersten Blick erschienen die Beziehungen zwischen den Offizieren aus den Westen und aus dem Osten überdurchschnittlich kameradschaftlich, ja freundschaftlich. Als hätten wir schon etliche Jahre gemeinsam in der Truppe gedient, wären durch dick und dünn gegangen. Das Verhältnis war irgendwie exotisch. Wer der Exot war, blieb ungeklärt.
Deutsch-deutsche Sprachschwierigkeiten
Deutlich unterschied sich die Sprache. Wir waren gewohnt, in wenigen Worten zu melden oder zu befehlen. Je prägnanter, exakter und kürzer, desto besser. Wir gebrauchten hauptsächlich Substantive. Von der anderen Seiten hörten wir eine blumenreiche Sprache, gespickt mit vielen Anglizismen, sahen Offiziere mit Kettchen und Siegelringen. Für uns ein vollkommen deplatziertes Erscheinungsbild. Bald begannen wir den Schwachsinn zu übernehmen. Das Wörtchen »okay« mauserte sich zu einer satzbeendenden Redefloskel. Damals beendeten wir doch auch nicht ein Gespräch mit »choroscho« (russisch-gut).
In der VM, wie auch in der ganzen NVA, gehörte es zum militärischen Brauch, gemeinsam gefasste Beschlüsse genau mit Verantwortlichkeit und Termin festzuhalten und vor allem einzuhalten. Ausnahmen bestätigten die Regel. Keiner wagte, wenn nicht Übergeordnete etwas anderes befahlen, einen Termin platzen zu lassen.
Jetzt verstanden wir anfangs die Welt nicht mehr, wenn wir hörten: »Ja, da kam noch etwas dazwischen, wir haben das noch nicht geschafft, voraussichtlich wird es erst nächste Woche.« Der Vorgesetzte antwortete darauf in der Regel: »Okay, bleibt daran, macht die Sache fertig und ruft mich dann an.«
Der Unterstellte hatte den Termin nicht etwa vergessen oder den Befehl verweigert, sondern war an einem lapidaren Grund oder an einem wirklich schwierigen Problem gescheitert. Der befohlene Termin ging baden, und niemand nahm Anstoß. Für mich war das immer ein nicht erfüllter Befehl, also ein Unding im Dienstablauf. Einerseits wollte niemand Erfahrungen aus der VM oder NVA übernehmen, andererseits verdammte sie auch keiner, man äußerte sich einfach nicht dazu. Tunlichst vermieden die westdeutschen Offiziere provokative Äußerungen gegenüber der NVA und deren ehemaligen Angehörigen. Auch gegenüber unserer politischen Vergangenheit hielt man sich zurück und wollte anscheinend darüber auch nichts wissen. Dafür gab es andere Behörden.
Trotz aller Langwierigkeit und Langatmigkeit in den Beratungen und trotz aller diffusen Bedingungen spürten wir immer den konkreten Auftrag der hier versammelten Herren. Stück für Stück arbeiteten sie an ihrer Mission, auch wenn es zeitweilig keinen Schritt vorwärts ging.
Sicherheitspolitisches Denken, Geheimhaltung oder Wachsamkeit, politische Animositäten schienen in dieser Phase zweitrangig. Es gab keine Feinde mehr, nur noch Freunde. Alles ordnete sich dem Ziel, der Auflösung und Neustrukturierung der Streitkräfte unter. Erschien irgendetwas unklar, egal von welcher Seite und zu welchem Problem, diskutierten es die Anwesenden ausführlich und bis ins letzte Detail, manchmal bis zum Erbrechen. Keiner der westdeutschen Soldaten empfand es als ehrenrührig, schon geklärte Probleme zu hinterfragen, selbst der Admiral scheute sich nicht, dumme Frage zu stellen.
- März 1991. Eigentlich sollte gestern schon die Meppener Truppe vom WTD-91 anreisen. Unser letzter Raketen- und Startrampenspezialist, Kapitänleutnant Hösel, musste aber bis einschließlich 8. März nach Dresden. Als Fernstudent besaß er eine Dienststellenvereinbarung, die es ihm in einem bestimmten Rahmen ermöglichte, sein über sechs Jahre sich hinziehendes postgraduales Informatikstudium zu beenden. Natürlich lag ihm daran, sein Studium noch erfolgreich abzuschließen. Vollkommen zu Recht entschied er sich für seine persönliche Zukunft. Die in NVA-Zeiten abgeschlossene Vereinbarung übernahm stillschweigend die Bundeswehr. Man brauchte Herrn Hösel noch. Deshalb entschloss man sich zu Kompromissen.
Statt seiner reiste die Tilzower Truppe an, die über die Raketen ausreichend Bescheid wusste. Für die SSR hatte man vorsorglich noch zwei, drei Spezies im Nachkommando geparkt. Die Meppener kamen einen Tag später. Die Offiziere des WTD-91, zuständig für Waffen und Munition im BWB, wollten wichtige Probleme mit unseren Spezialisten beraten und diskutieren. Das dauerte den ganzen Vormittag. Sie klärten Fragen, wie es sich für Praktiker gehört, natürlich vor Ort an der Technik. Ich ging auch in die Regelhalle 15, um zu sehen, wofür sich die Herren aus Meppen interessieren. Viele Detailfragen wurden an der DK-150 geklärt, dem Regelkomplex für die Raketen P-21/22 unter stationären Bedingungen.
Ich lernte Herrn Hüsemann kennen, einen Verantwortlichen der Meppener Truppe. Wir lehnten beide an einer zur Durchsicht vorbereiteten Rakete, er auf der einen, ich auf der anderen Flügelkonsole. Ich fragte ihn: »Sie haben sich schon eine gewisse Zeit mit dem da beschäftigt, was halten sie von diesem Raketenkomplex?« Hüsemann überlegte nicht lange: »Es gibt nichts Vergleichbares in der NATO.« Mehr nicht.
Einerseits hieß es nicht, daß es nichts Besseres gäbe. Vielleicht ließen sich die Raketen, vielleicht auch der gesamte Komplex, mit nichts Ähnlichem vergleichen. Andererseits konnte man die Aussage auch so werten, daß es nichts Besseres in diesem Bereich gab. Das Informationsbedürfnis war jedenfalls groß. Komplette Raketen und Ersatzteile schienen sehr gefragt.
Der Experte Hüsemann wertete vollkommen neutral und richtig, indem er verglich. Damit traf ich den ersten vernünftig denkenden westdeutschen Spezialisten. Alle anderen, die kamen, schauten und gingen wieder; wie sagt man jetzt treffend und prägnant? »Forget it.«
Nur wer objektiv wertete, musste anerkennen, daß es sich, wie bei nicht wenigen Waffensystemen der NVA, um qualitativ moderne und leistungsfähige Kampftechnik handelte, über die man selbst nicht verfügte. Dafür hatten sie aber etwas anderes. Jedes Waffensystem der sich einst gegenüberstehenden Seiten verfügte über spezifische Gefechtsmöglichkeiten. Zwischen ihnen ein Gleichheitszeichen zu setzen, führt zu falschen Einschätzungen, kann im Gefecht fatale Folgen haben. Es ist blanke Ideologie, nur aus politischer Sicht die andere Waffentechnik zu deklassieren, so wie ich es tagein, tagaus vernehmen musste. Das ging uns allen gegen den Strich und gegen unsere Ehre. Endlich formulierte ein Spezialist von der anderen Seite, wenn auch diplomatisch, ein reales Urteil, mit dem wir leben konnten.
Ähnliche, ideologisch geprägte Urteile wie die oben genannten gab es auch in der DDR und auch durch die DDR-Führung. Als Offizier der Volksmarine beurteilte ich die Gefechtsmöglichkeiten der anderen Seite, beispielsweise die Hauptbewaffnung eines Raketenschnellbootes vom Typ 143A, mit vier »Exocet-38 MM« an Bord, militärisch nüchtern und real. Wir wussten, daß mit Lenins Worten vom »faulenden, parasitären und absterbenden Imperialismus« hier nichts zu machen war. Uns stand effektive und moderne Technik gegenüber. Und das hat selbst die politische Führung der Armee so gesehen.
Am gleichen Tag fuhren unter Leitung von Oberleutnant Stadler LKWs die erste Partie der in der Bekleidung- und Ausrüstungskammer des KRR gelagerten Bestände zu einem Konzentrierungslager nach Tangermünde. Von dort wurden sie in aller Herren Länder verschenkt oder verscherbelt. Hin und wieder sah ich in Filmberichten aus Ex-Jugoslawien und der Türkei unsere Kampfanzüge und Stahlhelme. Ein zweiter Transport von NVA-Bekleidung und Ausrüstung ging eine Woche später ab. Welche Annehmlichkeiten die »marode NVA-Ausrüstung« den nach Anatolien abkommandierten Bundeswehrsoldaten brachte, las ich am 15. Februar 1991: »Bundesverteidigungsminister Dr. Stoltenberg besucht auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Erhac die 248 Luftwaffensoldaten der Bundeswehr. Seit sieben Wochen leisten sie hier im östlichen, sehr winterlichen Anatolien aus Anlass ›deutscher Bündnistreue‹ ihren Dienst. Im Gespräch erfährt der Minister, daß die deutschen Soldaten dank der Lieferungen aus den NVA-Beständen gut ausgerüstet sind: Die zweckmäßigen Winteruniformen Made in GDR werden von den Piloten ebenso wie von den Technikern gelobt. Sie erwiesen sich günstiger als die Bundeswehrbekleidung. Auch für die mit Öfen ausgestatteten Winterzelte aus Ostdeutschland hat die Bundeswehr nichts Vergleichbares in ihren Arsenalen. Besonders geschätzt werden aber die Container – die speziellen für die ABC-Abwehr ebenso wie die für den Sanitätsdienst oder die für die Unterbringung des Personals. So bieten die Wohncontainer des Typs R/LAK II / 6 Platz für drei Personen. Sie sind mit Liegen, Sitzplätzen sowie Handwaschbecken und Durchlauferhitzern ausgestattet«.49
- März 1991. Heute verließen Fregattenkapitän Eicke und Oberbootsmann Radtke von der Unterstützergruppe das KRR. Die Hauptaufgabe im KRR war erledigt, es gab neue Herausforderungen für die westdeutschen Berufssoldaten. Diesmal hieß der Bestimmungsort Peenemünde. Dort sollten sie ein Marinestützpunktkommando, das östlichste im vereinten Deutschland, mit aufbauen. Die Struktur des neuen Standortes lässt sich auch nicht annähernd mit der des alten vergleichen. In Peenemünde ankerte die 1. Flottille und ungefähr 3.000 Marineangehörige dienten in diesem Verband der Sicherungskräfte der ehemaligen Volksmarine. Jetzt stand die Aufstellung einer Truppe mit zirka 40 Soldaten und 47 Zivilbediensteten bevor.
Ein Symbol ist der Raum um Peenemünde trotzdem geworden. Hier liegen alle außer Dienst gestellten Schiffe und Boote der Volksmarine – der größte Schiffsfriedhof seit Beendigung des Zweiten Weltkrieges.
Verabschiedung mit Dolch
Ich ärgerte mich. Warum wird ausgerechnet Eicke nach Peenemünde versetzt, hätte das ein ostdeutscher Offizier nicht genauso gut gemeistert? Warum Muss ich gehen und einer bleibt, der seinen Höhepunkt im militärischen Leben mit 36 Dienstjahren eigentlich schon hinter sich hat?
Seine Verabschiedungsfeier bereitete Kapitän Eicke persönlich vor. Er besprach mit mir die Einzelheiten und lud zu einem kleinen Imbiss zwölf Offiziere, fünf Portepeeunteroffiziere, zwei Matrosen (die Vertrauensmänner), vier Zivilbedienstete, die der Personalrat festlegen sollte, die vier Mann der Unterstützungsgruppe und die fünf sowjetischen Offiziere von unserem Treffen vom 17. Januar ein. Ich freute mich, daß er die sowjetischen Offiziere nicht vergessen hatte, doch sie erschienen nicht, wie ich schon vermutet hatte. Die übrigen Geladenen kamen ins ehemalige Planungskabinett. Kapitän Eicke bedankte sich bei allen Angehörigen des Nachkommandos, fasste die Etappen seiner Tätigkeit zusammen und ließ natürlich das historisch einmalige Ereignis der Wiedervereinigung nicht aus. Er wünschte uns allen alles erdenklich Gute, gesundheitlich und beruflich. Mit jedem Anwesenden stieß er mit einem Glas Sekt an. Danach ergriff ich das Wort, um Kapitän Eicke und den Oberbootsmann Radtke aus dem Küstenraketenregiment zu verabschieden.
»Werter Herr Eicke, werter Herr Radtke !
Das KRR verabschiedet Sie heute offiziell. Es gilt bei solchen Eckpunkten, es ist fast ein halbes Jahr vergangen, als Sie Ihren Dienst als Leiter der Unterstützungsgruppe im KRR angetreten haben, ein Fazit zu ziehen. Ihre Aufgabe, die Ihnen befohlen wurde und zu der Sie sich freiwillig gemeldet hatten, bestand in der Auflösung des KRR-18.
Was wurde dabei erreicht: In erster Linie wurde die personelle Auflösung von großen Teilen des Berufssoldatenstandes des KRR verfügt und durchgesetzt. Bis auf ein kleines Nachkommando, das ich leite, den Zivilbeschäftigten, die sich größtenteils in gekündigten Arbeitsverhältnissen befinden und zwei SaZ-2, das sind 0,5 Prozent des ehemaligen Auffüllungsstandes des KRR, die von der Bundeswehr auf Probe übernommen wurden, kann eingeschätzt werden, daß dieser Punkt abgearbeitet und erfüllt wurde. Die materielle Absteuerung und Entsorgung des ehemaligen KRR wurde in keiner Weise erfüllt. Seit Oktober 1990 wurden keine nennenswerten Bestände an Kampftechnik, Großgerät und anderer Ausrüstung abgezogen. Die Ursachen dafür liegen weder bei der Unterstützungsgruppe noch beim Nachkommando. Für die Erfüllung Ihrer Mission kann Ihnen an dieser Stelle verständlicherweise kein ehemaliger Angehöriger des KRR danken.
Dank kann Ihnen in anderer Hinsicht ausgesprochen werden. Wir, damit meine ich die Menschen im Beitrittsgebiet, befinden uns alle in einer nicht einfachen gesellschaftlichen Entwicklungsphase. Ihr echtes Bemühen, uns in diesem Prozess des Zurechtfindens, des Klärens von vielen neuen Sachverhalten, Problemen und bei der Wertung von Ereignissen behilflich zu sein, unterstützend zu wirken, wurde durch die Mehrzahl der Angehörigen positiv eingeschätzt. Das heißt aber nicht, daß wir immer die gleiche Sprache, das gleiche Vokabular und gleiche Denk- und Verhaltensweisen zum Ausdruck brachten. Es wird noch ein großer Zeitabschnitt notwendig sein, um diese Kluft in jeder Hinsicht zu überbrücken. Auch unsere gemeinsame Zusammenarbeit möchte ich unter diesem Zeichen verstanden wissen. Sie haben mir persönlich, gemeinsam mit Ihren Männern, wertvolle Hinweise gegeben, die es gilt, zukünftig zu berücksichtigen. Dabei möchte ich keineswegs zum Ausdruck bringen, daß diese kameradschaftliche, faire und soldatische Zusammenarbeit zwischen uns beiden und allen anderen Soldaten des ehemaligen KRR eventuell zur Aufgabe der jeweiligen Persönlichkeit geführt hat.
Sie werden ab nächster Woche eine neue Tätigkeit als Kommandeur des Marinestützpunktkommandos in Peenemünde aufnehmen. Zur Seite werden Ihnen neben Herrn Radtke sechs weitere Saz-2 der ehemaligen 1. Flottille, Soldaten aus anderen Dienststellen, die dorthin versetzt werden sowie eine Reihe von ›Weiterverwendern‹ stehen. Auch dort wird die Hauptaufgabe in der ersten Zeit sein, den Großteil der Schiffe und Boote der ehemaligen Volksmarine einer weiteren Verwendung oder der Verschrottung zuzuführen.
Aber dort gibt es einen wesentlichen Unterschied zum KRR-18, dort wird etwas Neues aufgebaut. Uns würde es freuen, wenn Sie berichten könnten, daß Ihre, aus unserer Sicht ›bessere Mission‹ des Aufbaus mit großen Schritten voranschreitet.
Auch Ihnen, Herrn Radtke, möchte ich für Ihre immer zuvorkommende und höfliche Unterstützung danken. Ich wünsche Ihnen darum Gesundheit, Soldatenglück, und jetzt kann man es auch einem Seemann sagen: allzeit Gute Fahrt und ständig eine Handbreit Wasser unterm Kiel in Ihrem Hafenbecken, im Fahrwasser und auf den Ansteuerungen vor Peenemünde.
Für unsere weitere Zusammenarbeit mit den Herren Linde und Knuth wünsche ich persönlich alles Gute.«
Meine Worte hatten Kapitän Eicke etwas verstört. Es entstand eine Situation wie zu seiner Antrittsrede. Er hatte von mir keine Rede erwartet. Ich konnte ihn doch aber nicht einfach gehen lassen, als hätte er bei uns nur mal vorbeigeschaut.
Immerhin waren durch seine maßgebliche Arbeit alle meine Berufssoldaten entlassen worden. So etwas konnte ich nicht wortlos schlucken, schon deshalb nicht, weil wir zu der Abwicklung keine Alternative hatten.
Lange hatte ich überlegt, wie ich diesen Moment und diesen Gedanken noch akzentuierter herausheben kann. Ich überreichte Kapitän Eicke einen NVA-Offiziersdolch mit der Gravur »Anlässlich der Abrüstung des KRR-18«. Für ihn war es trotzdem etwas Besonderes, weil ein Offiziersdolch nicht zur Ausstattung des Offizierskorps der Bundesmarine gehört.
Auf den letzten Kommandeurstagungen im Marinekommando, an denen ich noch teilnahm, sah ich Kapitän Eicke gelegentlich, diesmal als Nachlassverwalter der Volksmarine und zukünftigen Stützpunktkommandanten von Peenemünde. Es gab nicht mehr viel gemeinsam zu besprechen.
Oberbootsmann Radtke verließ uns erst am 22. März 1991. Jetzt war Kapitän Linde der Verantwortliche der Unterstützungsgruppe, sie bestand nur noch aus Regierungsoberinspektor Knuth und Kapitän Linde. Am 13. März lud ich, bevor uns Radtke in Richtung Peenemünde verließ, alle drei zu mir nach Hause ein.
Die nächsten Tagen brachten weitere Abwechslungen. Jeder übriggebliebene Soldat, der uns verließ, gab seinen Ausstand. Dazu setzten wir uns entweder vormittags oder nachmittags für eine reichliche Stunde zusammen. Es gab belegte Brötchen, Kaffee und Kuchen, einen Schnaps oder ein Bier, Saft, Sekt oder andere Getränke. Wir feierten nicht, sondern saßen in einer lockeren Runde. Jeder Entlassungskandidat bekam ein kleines Andenken. Wir tauschten Erfahrungen bei der Jobsuche, bei den Vorstellungsgesprächen und andere Tipps aus. So ging es fast jeden zweiten Tag. Viele von ihnen beglichen noch ihren Resturlaub, die SaZ-2 wurden auf irgendwelche Lehrgänge kommandiert, von wo aus sie in Ihre neuen Dienststellen gingen. Unser kleines Häufchen im Nachkommando schrumpfte immer weiter zusammen.
In diesen Tagen erhielt ich eine Antwort auf eine Bewerbung, die ich Mitte Februar an ein schweizerisches Handelsunternehmen abgesandt hatte. Ich wurde zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Bei solchen Nachrichten freute ich mich wie ein kleines Kind zu Weihnachten.
Mit einer gewissen inneren Freude fuhr ich am nächsten Tag wieder zum Dienst. Ich erzählte es außer Petra vorerst niemandem. Solche Zurückhaltung, das erfuhr ich in meinem späteren Leben in Westdeutschland, ist eine äußerst praktische Verhaltensweise.
Die Amerikaner kommen
Ein Kleinbus rollte durchs KDL, hielt vor dem Klub und aus dem Fahrzeug stiegen mehrere Zivilisten. Wer hätte das je gedacht, Amerikaner im Küstenraketenregiment. Wir saßen im Besprechungsraum des Klubgebäudes zusammen. Wie es der Zufall wollte, frischte ich seit einem knappen halben Jahr mein Englisch etwas auf. Fast jeden Abend lernte ich vor dem Schlafengehen Vokabeln, Grammatik und Redewendungen. Ich hatte zwar sechs Jahre Englisch in der Schule gelernt, aber ohne Praxis verkümmerte die Fähigkeit, sich auszudrücken, recht schnell.
Zu Besprechungsbeginn begrüßte ich die Gäste in Englisch. Oberbootsmann Radtke hatte mir bei der Vorbereitung etwas geholfen.
Ich erinnere mich aus dem gesamten neunköpfigen Team nur an drei Gesichter. Den korpulenten Mr. Brattin konnte man nicht übersehen. Er verfügte von der amerikanischen Seite über den größten technischen Sachverstand. Ihn sollte ich später wiedersehen. Auch der stellvertretende Marine- und Luftwaffenattaché von der amerikanischen Botschaft, Mr. Arthur Craig Griffin, blieb im Gedächtnis. Fregattenkapitän Frank vom FüM II/1 kannte ich schon.
Mein Englisch erwies sich dann doch nicht als so perfekt, daß ich alles verstehen und auffassen konnte. Korvettenkapitän Griffin und Fregattenkapitän Frank dolmetschten. Drei Gesprächskreise befassten sich mit Detailfragen. Alle Teilnehmer besichtigten anschließend die Startrampen, die Regelhalle, die Raketenhallen und die Tankplätze. Sie lernten den gesamten Technikpark für den Komplex »Rubesh« kennen.
Im Gegensatz zu den Israelis informierten sich die Amerikaner umfassender. Sie stellten konkrete und detaillierte Fragen, aber ich konnte nicht daraus schließen, weshalb sie sich für diese Technik der ehemaligen Küstenraketenkräfte der Volksmarine interessierten. Sie ließen sich alles erklären, von der Toxität der Raketentreibstoffe bis zur Anzahl der noch vorhandenen Raketen und Startrampen. Sie wollte die Regelapparaturen sehen und setzten sich in die Gefechtskabine der Startrampen. In ihren Köpfen schienen Rechenmaschinen zu laufen. Offensichtlich beschäftigten sie sich mit dem Preis-Leistungs-Verhältnis des Unternehmens »Rubesh«. Welcher Aufwand Muss betrieben werden, um dieses oder jenes Ergebnis mit dieser Technik zu erreichen. Sie äußerten sich aber nicht darüber, ob überhaupt und wieviel sie von unserer Hauptbewaffnung haben wollten und welchen Zweck sie eigentlich verfolgten. Das aus diesem ersten Informationsbesuch die »Operation Tarantul/Rubesh« werden sollte, ahnte ich nicht. Die Amerikaner bedankten sich bei uns und verließen Schwarzenpfost. Nicht wenige Wochen später hörte ich durch Zufall eine Bemerkung: »Zur Zeit berechnen die Amerikaner die Transportkosten für den sie interessierenden Technikteil und setzen sie ins Verhältnis zu den Kosten für jene Ausrüstungen, die sie noch mitnehmen müssen, damit wir einen spürbaren Materialabschub verbuchen können. «
Mit anderen Worten: Unsere Technik verscherbelte die Bundesrepublik für »einen Appel und ein Ei« an die Amis. Und die wollten das Verhältnis zwischen dem, was sie haben wollten und dem, was sie nehmen sollten, ökonomisch günstig gestalten.
Die anschließenden Verhandlungen zwischen den beiden Seiten zogen sich hin bis Januar 1993. Letztlich schloss man ein Agreement. Man legte fest, was man wollte und formulierte die Gegenleistung.50
Erinnern möchte ich daran, daß eine Startrampe 10 Millionen DM gekostet hatte, die Raketen und die andere Technik waren nicht wesentlich billiger. Ich kam mir vor, als befände ich mich in den härtesten Jahren der Reparationszeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der sowjetischen Besatzungszone. Die Waffen hatte die DDR auf Heller und Pfennig bezahlt, jetzt verschenkte sie der neue Besitzer.
Ich richtete meinen Blick in die Zukunft. Nur der innere Groll, ja auch verhaltener Hass und das unbeschreibliche Ungerechtigkeitsgefühl kamen in mir hin und wieder auf. Ich versuchte es wegzudrücken und bereitete mich auf das Vorstellungsgespräch vor. Ich wollte diese Gelegenheit beim Schopf packen.
Diesmal nahm ich nicht heimlich einen Tag Urlaub, sondern offiziell drei. Auf dem Weg dorthin besuchte ich die Familie Schröder und fuhr erst am darauffolgenden Morgen von Bonn in Richtung Wiesbaden weiter. Schröders freuten sich über meinen beruflichen Vorstoß. Bei Kapitän zur See Schröder und seiner Frau spürte ich regen Anteil an meinem weiteren persönlichen und auch beruflichen Weg.
In Wiesbaden sah ich in einem vorbeifahrenden Opel mit einem Rostocker Kennzeichen einen guten Bekannten aus meiner Dresdener Studienzeit hinter dem Steuer. Also war ich nicht der einzige Kandidat, der sich, über das Büro zur Berufsvermittlung im Marinekommando geleitet, hier vorstellte.
Ich zog mich um, denn ich wollte nicht in einer vom Autofahren zerknitterten Kleidung zum Gespräch erscheinen. Fünf Minuten vor der Zeit meldete ich mich in der Rezeption des Unternehmens. Ich fühlte mich gut und ging deshalb völlig unverkrampft in das Gespräch. Der Geschäftsführer und sein Cheflogistiker unterhielten sich mit mir, stellten ihr Unternehmen vor. Ich fühlte vom ersten Moment an, daß die beiden Optimismus und Zuversicht ausstrahlten, fachliche Kompetenz und vor allem Menschenkenntnis besaßen. Ein seltenes Zusammentreffen von Fähigkeiten.
Alle meine Bedenken, innere Barrieren und Hemmungen ließ ich fahren. Offen und ehrlich erklärte ich mein Anliegen, erläuterte meine Vorstellungen, erklärte meine Bereitschaft, viel Neues lernen zu wollen. Bewusst sei mir, stellte ich fest, daß dieser Job für mich ein Sprung ins kalte Wasser sei, ich aber eine neue Tätigkeit bestmöglich meistern werde. Diese Gedanken kamen aus meinem Herzen und meines Erachten auch recht überzeugend an. Mehr sagte ich nicht, auch nicht während des Rundgangs durch das Zentrallager. Ich überschüttete den Logistiker nicht mit Fragen und teilte ihm auch nicht mit, was ich alles weiß und kann. Ich schaute und hörte einfach zu. Am Ende des Gesprächs fragten sie mich nach meinem jetzigen Arbeitsverhältnis. Ich erklärte ihnen in wenigen Worten, was ich war, was ich gegenwärtig noch bin, und wir kamen irgendwie aufs Segeln zu sprechen. Mit einer seemännischen Bemerkung bedankte ich mich für das Gespräch und hatte es hinter mir. Ich setzte mich in meinen postgelben Skoda und fuhr nach Hause. Als ich in Rostock ankam, teilte ich meine allgemeine Zufriedenheit den meinigen mit, schrieb dem Geschäftsführer einen kurzen Brief als Dank für das Gespräch und begann auf eine Nachricht von ihm zu warten.
Am kommenden Montag fuhr ich wieder zum Dienst und verrichtete meine Tätigkeit im Nachkommando, als hätte es dieses Vorstellungsgespräch nie gegeben. Natürlich wussten meine engsten Mitarbeiter Bescheid, aber auch ihnen erzählte ich alles nüchtern und mehr oder weniger neutral, denn ich wollte nichts überstürzen, um dann nicht so enttäuscht zu sein, wenn es nicht klappen würde.
Muster ohne Wert
Wir ehemaligen NVA-Angehörigen gehörten zu einer aussterbenden Art und entsprechend sahen auch unsere Dienstbezüge aus. Der Verdienst ist ja sonst ein Bereich, über den man in unserer neuen Welt nicht spricht. Wer will schon zugeben, sich unter Wert zu verkaufen. Aber als ehemalige NVA-Offiziere waren wir ja ohnehin Muster ohne Wert. Deshalb kann ich frei über meinen Lohn im letzten Monat meines militärischen Lebens berichten. Die gesamte Gebührniszahlung der Rest-NVA platzte. Solche Panne hätte man sich im November oder Dezember 1990 nicht leisten dürfen. Erst das alte System abrüsten, sagte man sich, und dann die Zahlungen der Dienstbezüge auf den Westmodus umstellen. Trotz High-tech in EDV und einem halben Jahr Probezeit lief dieses Problem unter den abgespeckten Bedingungen ostdeutscher Besoldung voll gegen den Baum. Admiral Horten gab bei einer der letzten Kommandeurstagungen zu, daß es zurzeit drunter und drüber ginge. Das neue System, das elektronische, sei fehlerhaft und stürze pausenlos ab. Letztlich entschied man sich für Abschlagszahlungen. Auch ich bekam eine Vorauszahlung von 500 DM.
Ganz davon abgesehen, klärte niemand das Problem mit dem 13. Monatsgehalt für Zeit- und Berufssoldaten und mit dem Entlassungsgeld für die Grundwehrdienstleistenden. Wir als Berufssoldaten zweiter Klasse erhielten nie ein 13. Gehalt, nicht einmal anteilmäßig. Bei einem Westsoldaten werden vom Bruttolohn lediglich die Steuern abgezogen. Sozialversicherungs- und Krankenkassenbeiträge müssen nicht gezahlt werden, weil »echte« Soldaten auf Zeit nach dem Ausscheiden in der Rentenversicherung nachversichert werden. Auch Krankenversicherungsbeiträge bezahlen sie nicht, da Soldaten Anspruch auf unentgeltliche truppenärztliche Versorgung haben. Wir als ehemalige NVA-Angehörige bezahlten alle Versicherungsleistungen, die Kranken-, Renten- und die Arbeitslosenversicherungen, Lohnsteuer selbstverständlich auch. Natürlich war das keine Willkür, sondern so im Einigungsvertrag geregelt. Wenn ich alles dazu und alles abrechnete, erhielt ich zweitausend Mark auf die Hand. Das war für mich damals immer noch viel Geld, denn für unsere Plattenbauwohnung bezahlten wir vorerst nur 116 DM. Genau ein Jahr nach dem Beitritt stieg die Miete um das Vierfache auf 485,65 DM. Ein Vierteljahr später, als wir in den Westen umzogen, bezahlte ich das Dreifache der letztgenannten Summe.
Obwohl ich fast zwanzig Jahre gedient hatte, bekam ich im Vergleich zu meinesgleichen aus der Bundeswehr ungefähr die Hälfte. Abgesehen davon durften sich westdeutsche Soldaten, die nach der deutschen Vereinigung mindestens ein Jahr in der ehemaligen DDR dienten, nachträglich diese Dienstzeit als »doppelt ruhegehaltsfähig« anrechnen lassen. Diese Regelung erhöhte auch die Versorgungsansprüche bei Zeit- sowie Berufssoldaten, die vorzeitig in Pension gehen. Zunächst genossen das Privileg nur Soldaten, die »Aufbauhilfe unter besonders erschwerten Bedingungen« nachweisen konnten. Die pauschale Regelung galt für die Zeit von Oktober 1990 bis Juni 1993. Für die Zeit bis 1995 wurde die großzügige Regelung nur gewährt, wenn Vorgesetzte den entsprechenden Antrag eines West-Soldaten befürworteten. Zusätzlich zum Gehalt erhielten Soldaten und Beamte aus dem Westen, die vor Ende 1991 in die neuen Bundesländer gingen, eine Aufwandsentschädigung bis zu 2.500 DM im Monat. Kapitän Eicke und Kapitän Linde bekamen also monatlich mehr finanzielle »Aufbauhilfen« zusätzlich zu ihrem Gehalt, als ich überhaupt in meiner Lohntüte fand. Dabei bauten sie ja nun wahrhaftig nicht auf sondern ab. Seit 1991 bekommen die in die neuen Bundesländer Abkommandierten ein reduziertes »Buschgeld« (Soldatenjargon) von maximal 1.500 DM monatlich. Das Argument für die Zulage gleich nach der Vereinigung: Viele Kasernen der ehemaligen Nationalen Volksarmee seien in einem erbärmlichen Zustand.51
Spaßeshalber sei folgende Umkehrung empfohlen: Hätte man als Berechnungsgrundlage den technischen- und Wartungszustand der KRR-Technik genommen, hätten die westdeutschen Aufbauhelfer noch Geld an die Gebührnisstelle zahlen müssen.
Zwei Monate nach meiner Entlassung meldete sich bei mir schriftlich das nun funktionierende Wehrbereichsgebührnisamt VII und teilte mir mit, daß auf Grund der Veränderung der Festlegungen zur Zahlung von Beiträgen zur Renten- und Arbeitslosenversicherung ab April 1991, die aber erst im Monat Mai im Rechner berücksichtigt wurden, ein Netto-Minusbetrag in Höhe von 51,76 DM entstanden sei. Diesen sollte ich nun begleichen.
Ein halbes Jahr später bekam ich wieder Post von der zuständigen Gebührnisstelle. Diesmal den ausführlichen und bis auf den Pfennig ausgerechneten Bescheid über die Festsetzung und Berechnung des Übergangsgeldes.
Auf Grund meines neuen Einkommens, so wurde mir mitgeteilt, bekäme ich kein Übergangsgeld in Höhe von 70 Prozent der monatlichen Brutto-Dienstbezüge der letzten sechs Monate. Denn Anfang April hätte ich die »Verrechnungsgrenze« überschritten. Das Geld für die Zeit im Nachkommando schlug, im Vergleich zu der Einmalzahlung von 7.000 DM, in ein positives Saldo um. Hätte ich bis zu diesem Zeitpunkt einen neuen Job gefunden, wäre es für mich ein Minusgeschäft gewesen. Nun bekam ich genau eintausend Mark. Dafür hatte ich also vier Monate »Abrüstungsarbeit« geleistet. Mein monatliches Mehreinkommen betrug, so gerechnet, genau 250 Mark.
Der Alltag im KRR brachte nichts Neues. Die Wehrtechnischen Dienststellen brauchten wieder Nachschub. Diesmal holte die WTD-71 den Imitator für die Laborkontrolle des Zielsuchlenkkopfes »Snegir« selbst ab. Dieses Gestell, es ist eine von der »DK-150« gesteuerte Wärmequelle, die die Bewegung eines turbinengetriebenes Schiffes simuliert und dabei die Auffaß- und Abfallempfindlichkeiten, das Zusammenwirken mit dem Autopiloten und andere Parameter der »Snegir« unter Laborbedingungen überprüft. Die Experten der Bundeswehr beschäftigten sich also intensiv mit dem IR-Kopf.
Das zukünftige Marinestützpunktkommando Warnemünde forderte eine Lehrgefechtsrakete als Standmodell an. Wir bauten also aus einer gutaussehenden Übungsrakete alle wichtigen Innereien aus und übergaben sie am 12. April. Warum der Leiter der Einrichtung, Kapitän zur See Kämpf, unbedingt ein Raketenmodell haben wollte, konnte ich nicht nachvollziehen. Im ehemaligen Stützpunkt gab es schon zwei Raketenstandmodelle. Eine »Sopka« (NATO-Bezeichnung »SSC-2b SAMLET«) und eine P-15 (NATO-Bezeichnung »STYX«). Vielleicht wollte er mit der dritten Rakete aus der letzten Flugkörpergeneration der ehemaligen Volksmarine seine Sammlung komplettieren.
Die Entlassungsuntersuchungen der Grundwehrdienstleistenden standen bevor. Der letzte Großeinsatz unseres Med.-Punktes. Dann gab es nicht mehr viel zu verarzten. Frau Dr. Schmidt und die drei Krankenschwestern bereiteten auf den Stationen alles zur Übergabe der teuren medizinischen Geräte, Arzneien, Verbandsmaterialien aus unserem kleinen »Waldkrankenhaus« vor.
Explosive Abwicklung
Meine letzte und wichtige Aktion vor meinem Abgang war Anfang März die Abgabe der Raketentreibstoffe, die im ehemaligen Küstenraketenregiment lagerten.
Die Treibstoffe sind so gefährlich wie Munition. Einerseits wegen der toxischen Wirkung, andererseits wegen der Explosionsgefahr, wenn beide Treibstoffkomponenten, der Oxydator und der eigentliche Brennstoff, zusammentreffen. Bis ins Detail lernte ich während meiner Ausbildung die Bestandteile aller für sowjetische Raketen gebräuchlichen flüssigen Treibstoffe und deren genaue prozentuale Zusammensetzungen kennen. Unser Oxydator »Melange-20k« bestand im Wesentlichen aus konzentrierter Salpetersäure, dem Brennstoff Samin, ein organisches Gemisch auf der Basis von Aminen. Das Verhältnis beider Komponenten ergab sich aus der idealen Verbrennung im Raketentriebwerk. Wir benötigten dreimal mehr Oxydator als Brennstoff.
Samin, der giftigere Stoff von beiden, wird in einem ganz bestimmten Luftgemisch sehr explosiv. Das hängt vom jeweiligen Raumvolumen ab. Eine Säure kann man mit Wasser verdünnen, anschließend mit einer Base neutralisieren und nach Laboruntersuchung in die Natur ablassen. Der Brennstoff lässt sich jedoch höchstens abwaschen. Seine Bestandteile bleiben erhalten. Er ist nur fabrikmäßig wieder aufbereitbar. Da es die entsprechenden Anlagen nur in der ehemaligen UdSSR gab, bestand keine finanzierbare Möglichkeit, diesen Stoff zu regenerieren.
Unter Einhaltung strengster Sicherheits-und Umweltbestimmungen verbrannten wir ihn bei Bedarf. In der RTA hatte ich dazu einen Neuerervorschlag eingereicht und verwirklicht. Damit sparten wir Tausende von DDR-Mark ein.
Bei der Wartung von Raketen der Bereitschaftsstufe I galt die Sicherheitsstufe I. Immerhin handelte es sich bei jeder Rakete um zusammen 500 Liter Oxydator und Treibstoff. Die technischen Sicherheitsvorkehrungen und vor allem die speziellen Brandschutzbestimmungen mussten wir bei Durchsichten von Raketen der Bereitschaftsstufe I penibel einhalten. Vergisst man zum Beispiel bei der P-15 die Sicherheitsstecker 5 und 8 zu ziehen, kann es passieren, daß beim Zuschalten der Elektroanlage der Rakete das Marschtriebwerk zündet. Einmal passierte dies in Hanshagen im Raketenbunker, Gott sei Dank nur bei einer Rakete der Bereitschaftsstufe III ohne Raketentreibstoff.
Bei einsatzbereiten Raketen zündet die Pyropatrone der Treibstoffturbine, die Treibstoffpumpe beschleunigt auf 23.000 Umdrehungen je Minute und erzeugt einen solchen Druck im Rohrleitungssystem, daß die Sicherheitsmembranen zerreißen und beide Komponenten in die Brennkammer eingespritzt werden. Das Triebwerk erzeugt dann einen Schub in der ersten Stufe von 1.314 Kilopond.
Wenn das Starttriebwerk, ein Feststofftriebwerk, in einer Regelhalle oder in einem Munitionsbunker zündet, setzt das innerhalb von Sekundenbruchteilen fast 30 Tonnen Schubkraft und gewaltige Mengen Treibgase frei. Kein Mensch überlebt in einem Gebäude eine solche Katastrophe.
Ich erinnere mich auch an eine ausrangierte und enttankte Gefechtsrakete, die wir als Lehrgefechtstechnik nutzen wollten. Nach Öffnen der Heckluken entdeckte das Bedienungspersonal Oxydator im Rumpf. Das Tankpersonal hatte zuvor die Brennstofftanks entleert und nicht bemerkt, daß Brennstoff ins Heckteil lief. Aus einem bereitstehenden Neutralisationsfahrzeug spritzten wir Wasser in die Oxydatorleckage und verhinderten damit eine Selbstentzündung. Es war das erste und einzige Mal, daß ich elektronische und elektromechanische Baugruppen unter Wasser setzen musste. Wäre ein schwer zu löschender Brand in der Rakete ausgebrochen, hätte der 130 Liter große Brennstofftank in die Luft fliegen können. Während der über dreißig Jahre, in denen Raketen in der Volksmarine gewartet und zu Übungszwecken eingesetzt und verschossen wurden, gab es nicht einen einzigen ernsthaften Fall, bei dem dieses Horrorszenario eintrat. Auch in den 13 Jahren, in denen ich in der Flotte mit Raketen umging, erlebte ich keine Havarie, die die Umwelt nennenswert schädigte. Wir verfügten über einen sehr gut ausgebildeten Stamm von Spezialisten, über verantwortungsbewusste Vorgesetzte und über ein sicheres Kontrollsystem.
Alle NVA-Angehörigen, die mit Raketentreibstoffen zu tun hatten, wurden gesondert in den Medizinischen Zentren der Armee und der Marine untersucht. Prophylaktische, wiederkehrende Kuren schützten die Gesundheit der Soldaten. Auch ich musste, mit nicht einmal dreißig Jahren, meine erste Kur antreten.
Die bevorstehende Entleerung, Neutralisation und Reinigung sowie Demontage des Raketentreibstofflagers bereiteten wir gut vor. Mit Stabsoberfähnrich Blumentritt aus der IBT-2 meldete sich bei mir ein ausgewiesener Fachmann, wir besprachen den gesamten Ablauf. Dann begannen die vorbereitenden Arbeiten zum Abtransport der Raketentreibstoffe.
Die noch verbliebenen Spezialisten im Nachkommando, Hauptbootsmann Lebert und Kapitänleutnant Flemmig, füllten mit dem Tankpersonal und den Technikern aus der RTA-6 die 180 Tonnen Raketentreibstoff aus den Lagerbehältern in die bewegliche Transporttechnik um. Die Soldaten von der RTB-2, die mit ihren Transportfahrzeugen das »Zeug« abtransportierten, standen im Training. Sie hatten schon alle Dienststellen der Raketentruppen der Landstreitkräfte und die der Fla-Raketentruppen der Luftverteidigung entsorgt. Unsere 180 Tonnen waren für sie nur ein Klacks.
Der Oxydator lagerte jetzt in 10-Kubikmeter-Behältern. Früher war die ATA der Gefechtsdiensteinheit mit den entsprechenden Komponenten aufgefüllt und stand bereit, die Raketen des ersten und des zweiten Kampfsatzes zu betanken. Jetzt befand sich alles in 5 Kubikmeter fassenden Lagerbehältern aus Aluminium. Alle Behälter waren untereinander über entsprechende Schieber, Rohr- und Gaspendelleitungen sowie Sicherheitsventile verbunden. Die Behälter standen in großen Alu-Auffangwannen. Die Beschaffenheit der Treibstofflager und der Tankplätze garantierte, daß kein Treibstoff in das Erdreich versickern konnte. Leckagen, Spülreste von Samin fingen wir in gesonderten Unterflurbehältern, in den sogenannten Slop-Behältern auf. Diese Reste entsorgten wir nun auch. Melangereste kamen in eine sogenannte Neutrogrube und wurden dort mit Ammoniakwasser neutralisiert. Das geprüfte Wasser (pH-Wert und Salzgehalt) leiteten wir in die Natur ab.
Die Tankfahrzeuge transportierten die Treibstoffe zur Raketentreibstoffbasis der Armee nach Felchow bei Angermünde.
Als die Treibstoffaktion ordnungsgemäß und planmäßig lief, delegierte ich die noch zu erfüllenden Aufgaben an kompetente Mitarbeiter und ging in Urlaub. Neun Tage standen mir anteilmäßig noch zu und ich sah unter den gegebenen Bedingungen nicht ein, darauf zu verzichten.
Als ich aus dem Urlaub kam, erinnerte nur noch der spezifische Geruch in den ausgefegten Lagerhallen, jede so groß wie ein Fußballfeld, daß hier einmal Raketentreibstoff gelagert wurde.
Wachablösung im Marinekommando Ost
Bevor die Planungsphase der RTS-Entsorgung endete, übergab im Marinekommando Rostock Flottillenadmiral Horten das Kommando an seinen dienstgradgleichen Nachfolger Otto Ciliax. Als ich das erste Mal diesen Namen hörte, erinnerte ich mich an ein kleines Fachbuch über angewandte Funkmeßstörungen in der Taktik der Seekriegskunst. Ich hatte diesen Tatsachenbericht während meines Studiums an der Seekriegshochschule in Baku in Russisch gelesen.
Der Autor beschrieb, wie ein Schiffsverband der faschistischen Kriegsmarine unter Einsatz von aktiven und energiereichen Funkmeßstörungen unverhofft und erstmalig so leistungsstark die alliierten Küstenbeobachtungsstationen außer Gefecht setzte, daß er unbeschadet den Ärmelkanal passieren konnte. Die neuentwickelten Radargeräte blendeten die Briten. Diese Aktion ging in die Seekriegsgeschichte ein und fand aus militärischer Sicht auch meine Bewunderung.
Der Kommandeur jenes Kampfschiffverbandes war der Vater meines neuen Chefs. Wer jetzt denkt, daß ich mich nach SED-Ideologie von dem Sohn eines faschistischen Marineoffiziers abwendete oder zumindest auf Distanz gegangen wäre, irrt gewaltig. Immerhin hatte sich der Sohn, mittlerweile auch schon 51 Jahre alt, aus eigener Kraft, unter völlig anderen Bedingungen zu Rang und Anerkennung hochgedient.
Mir kamen ganz andere Gedanken: Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzte man beim Aufbau neuer Streitkräfte in Ost und West die Fähigkeiten und das militärische Können von Soldaten, deren Ethos mit viel Blut und Verbrechen beschmutzt war. Diese Soldaten bekamen ihre Chance.
Uns NVA-Soldaten fragte keiner, wir wurden nicht einmal in Ehren entlassen. Qualifikation und Fähigkeit spielten keine Rolle. Trotz ständigem Gerede über Demokratie und Pluralismus entschieden die Verantwortlichen alles, aber auch alles aus politischer Sicht.
Doch zurück zu Horten.
Befehlshaber wechseln in der Regel nicht so oft. Ich möchte aber auch auf keinen Fall Amtszeiten von fast dreißig Jahren wie die des ehemaligen Chefs der Volksmarine, Wilhelm Ehm, favorisieren. Das ist auch nicht in Ordnung, denn ich behaupte einfach, daß dann das normale Personalentwicklungssystem blockiert, besonders dann, wenn sich dieses Schema nach unten pyramidenartig fortsetzt. So erhalten befähigte junge Offiziere nie die Chance zu einer erfolgreichen Karriere. Leider war es der Regelfall in der NVA. Erst durch die Wende wurde diese Blockierung aufgehoben, viel zu spät, wie sich erwies.
Während Hortens kurzer Amtszeit war die einseitige Auflösung der NVA und der Volksmarine sowohl ein willkommenes, als auch ein notwendiges Übel der geplanten Truppenreduzierung im Rahmen der deutschen Vereinigung und damit der gesamten Abrüstungsmaßnahmen in Europa.
Während man soziale Härten in Einzelfällen nicht ausschloss, dachte man auch in den Medien über den Aufbau der neuen Streitkräfte in den neuen Bundesländern und deren Zukunft nach. Aus psychologischer Sicht wäre es richtig gewesen, daß die bisherigen Befehlshaber wie Schönbohm und Horten auch die zweite Etappe hätten befehligen müssen. Denn auch bei Admiral Horten hatte sich eine Bindung zu den ostdeutschen Soldaten und zu den Bedingungen in den neuen Bundesländern herausgebildet. Zu denen, die er entließ, aber auch zu denen, die noch, wenn auch zur Probe oder in einem gesonderten und befristeten Dienstverhältnis, unter seinem Kommando standen. In seinen Reden und Berichten spürte ich diese menschliche Verbundenheit. Nicht umsonst schätzten Schönbohm und Stoltenberg den Admiral Horten eher als einen Unbequemen ein, der nicht willenlos alles ausführte, was ihm befohlen wurde. Natürlich erfüllte er die ihm gestellten Aufgaben, aber immer an der Grenze des Vertretbaren. Im Interesse der Lösung der Gesamtaufgabe wäre es besser gewesen, wenn er nicht nur das Alte aufgelöst, sondern auch das wenige Neue aufgebaut hätte.
In der NVA gab es zum Thema Kommandeurswechsel eine satirisch gefärbte Geschichte: Jeder Kommandeur übergibt seinem Nachfolger drei Briefe die in einer bestimmten Reihenfolge zu öffnen sind. Befindet sich der Neue in einer ausweglosen Situation, liest er den ersten Brief: »Schiebe alles auf Deinen Vorgänger! « Bei der nächsten komplizierten Situation öffnet er den zweiten und erhält den Rat: »Streu’ Asche auf Dein Haupt und übe Selbstkritik! « Wenn der Chef nun gar nicht mehr weiter weiß, öffnet er den letzten Brief. Dort steht ganz lapidar: »Fang’ an, Deine drei Briefe zu schreiben! « Und dann beginnt das Spiel wieder von vorn.
So war das auch im wirklichen Leben. Der neue Befehlshaber muss sich einarbeiten und hatte keine Bindung zu dem schon Geleisteten. Und so äußerte der neue Marinechef in seiner Antrittsrede, ohne auch nur einmal an die Offiziere, an die Berufsunteroffiziere der Volksmarine zu denken, die massenhaft seit einem halben Jahr entlassen worden sind, daß »…die neue Teilstreitkraft von 37.200 auf 32.600 Soldaten Ende 1994 und auf 26.200 nach dem Jahre 2000 verringert wird. Diese Reduzierung treffe im Wesentlichen die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein. «52 Das wirkte wie ein Schlag auf den Kopf all jener, die sich um einen neuen Arbeitsplatz bewarben oder mittellos erste Gehversuche im Zivilleben nach einer langen Soldatenzeit machten.
So etwas kann nur einer öffentlich äußern, der mit der Auflösung einer ganzen Armee nicht unmittelbar zu tun hatte. Aber auf jeden Fall sagte er nichts Unwahres. Der Akt des Kommandeurswechsels fand im Marinekommando statt. Ein Häufchen von ungefähr 100 bis 120 west- und ostdeutschen Offizieren und Zivilbediensteten standen in lockerer Antreteordnung auf der Kreuzung vor dem Klubgebäude. Es waren fast alle, die noch im Marinekommando tätig waren. Die Journalisten der regionalen Medien füllten das magere Häufchen einer einst so mächtigen Führungszentrale der Volksmarine. Generalmajor von Scheven nahm als Vertreter von Schönbohm den Kommandeurswechsel ab. Zu dem anschließenden Empfang lud mich Schönbohm persönlich ein. Ich ging hin, um mich bei Horten offiziell zu verabschieden, denn er kehrte nach Wilhelmshaven zurück.
Tage später erhielten ich und meine Frau, anlässlich des Besuchs des Segelschulschiffes »Gorch Fock« in Rostock-Warnemünde, eine Einladung des neuen Inspekteurs der Marine, Vizeadmiral Weyher.
Die Besatzung hatte das Schiff picobello aufgeklart, über alle Toppen geflaggt und gab sich betont Mühe, den Gästen des Abends zu zeigen, daß sie nicht nur zu solchen Anlässen seemännische Traditionen und Brauchtum der Segelschiffahrt pflegt. Ich fühlte mich zurückversetzt in die Zeit, als mir die Seebeine auf dem Segelschulschiff der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) »Wilhelm Pieck« wuchsen.
Alles lief so ab, wie man es sich im Fernsehen bei einem Empfang oder bei einer Schiffsparty vorstellt. Doch hier prägten, außer bei den Damen, Marineuniformen das Bild. Und so beherrschten maritime und militärische Themen die vielen Gespräche. Ich hörte lieber zu oder unterhielt mich mit meiner Frau, denn es waren ja nicht mehr die da, die ich von früher her kannte. Irgendwann an diesem Abend kamen wir mit Admiral Horten ins Gespräch. Besonders erinnere ich mich auch an den Kommandanten der »Gorch Fock«, Immo von Schnurbein. Ich lernte einen echten Seemann und Militär kennen, wie ich ihn mir vorstelle, aber kaum unter den westdeutschen Offizieren antraf. Nicht viel reden und wenn, dann nur kurz und inhaltsreich – ein gestandener Mann und erfahrener Marineoffizier. Der Kommandant der »Gorch Fock« verkörpert einen Soldatentyp, wie ich ihn nur aus der NVA oder aus der sowjetischen Armee und Flotte her kenne. Wie das Gegenteil wirkte auf mich an diesem Abend der neue Marineinspekteur, Vizeadmiral Peter Weyher. Ein Soldat mit Kettchen um den Hals und am Handgelenk oder mit Siegelring passte nicht in meine Vorstellungswelt. Natürlich denke ich heute nach acht Jahren anders darüber. Ohne Zweifel wirkte Weyher im Gespräch sehr intelligent, seine Art sich auszudrücken, empfand ich als schwülstig. Besonders eine Episode blieb mir in Erinnerung. Es ging um das gesicherte Wochenende der Bundeswehr und die Gefechtsbereitschaft der NVA und der Warschauer-Pakt-Truppen. Weyher schwadronierte: »Wenn der Warschauer Pakt am Freitagabend gen Westen losgerollt wäre, hätte er am Sonntag am Rhein gestanden und es hätte keinen gegeben, der ihn aufgehalten hätte. « Lachen konnte ich darüber nicht.
Nachtrag zur Geschichte
Am 9. April 1991 erhielt ich auf dem Postweg ein Dokument, auf dessen Grundlage das Küstenraketenregiment der Volksmarine aufzulösen sei. Nun war der Befehl eingetroffen, doch das Regiment existierte physisch schon lange nicht mehr. Mich erreichte also lediglich ein amtlich formulierter Nachtrag der Geschichte und ein Zeitdokument der Bürokratie. Der Befehl bestand aus zwei Seiten, wohl nicht länger als der Aufstellungsbefehl. Geburts- und Sterbeurkunden enthalten eben nicht mehr als unbedingt notwendig. In ihnen stehen keine Geschichten, sie enthalten nicht die Gründe des Entstehens und des Vergehens. Sie dokumentieren nur den Fakt. (siehe Anhang)
Das Alte war nun endgültig zu Ende und drei Tage später zeigte sich nun ein neuer Anfang. Der Glückstag hieß 12. April 1991. An diesem Tag entschieden die Geschäftsführer des Unternehmens, bei dem ich mich beworben hatte, wer als Logistiker in ihrem Unternehmen anfängt. Die Wahl fiel auf mich. Es war ein großes Glücksgefühl. Ich hielt den Telefonhörer noch in der Hand, obwohl das Gespräch schon längst beendet war. Eine große innere Belastung fiel von mir. Es war einer der schönsten Tage in meinem Leben. Da ich dieses Telefonat aus dem Dienstzimmer des ehemaligen Stellvertreters für Raketenbewaffnung geführt hatte, war es wohl Conny Witt, die als erste diese Nachricht erfuhr. Sie freute sich für mich, auch die anderen gratulierten mir später. Ich wusste zwar nicht, was mich erwartete, ich war aber innerlich davon überzeugt, daß ich es irgendwie meistern würde. Nun schrieb ich mein Entlassungsgesuch und übergab es an Kapitän Linde. Ich räumte mein Dienstzimmer, klärte einiges im Chaos meiner Dienstbezüge und verabschiedete mich von diesem oder jenem im Marinekommando. Dann nahm ich meinen Resturlaub.
Am Nachmittag des 25. Aprils ließ ich mich in die Dienststelle holen, obwohl ich noch Urlaub hatte. Ich verabschiedete mich von den Grundwehrdienstleistenden. Sie verließen mit mir die Dienststelle Schwarzenpfost. Zum gemeinsamen Abendessen tischte die Kombüse die besten Sachen auf, denn es war auch für die Köche die letzte Mahlzeit, die sie herrichteten.
Den Rest des ehemaligen Regiments übergab ich befehlsgemäß an Kapitän Linde. Menschen gab es kaum noch, dafür einen Berg an Technik: Startrampen, Raketen, herkömmliche und spezielle Kfz, Ersatzteile, Werkzeuge und, und, und. Der Gefechtspark, die Raketenhallen, die Lager unterschiedlichster Art, die Mobilmachungsreserven, die Technikeinheiten der 3. KRA und alle Kfz-Abstellplätze waren fast noch genauso gefüllt wie zuvor.
Kapitän Linde präsentierte mir die Nachricht, daß voraussichtlich die Amerikaner einen Großteil der Startrampen, Raketen und der notwendigen Spezialtechnik übernehmen werden. Zu welchen Bedingungen, sagte er mir nicht. Es war mir in diesem Moment auch egal. Später, als ich begann, über mein Leben in Uniform nachzudenken, als ich mich an solche Einzelheiten erinnerte, da wühlte ich alles noch einmal auf. Es zeichnete sich ab, daß einige Angehörige des Nachkommandos des KRR und Schlüsselpersonal der RTA-6 mit der Technik für längere Zeit in die Vereinigten Staaten gehen werden. Ich dachte, ich brauche keine USA. Wenn ich in die USA fahre, dann werde ich wohl die Reise selbst bezahlen. Mir kamen keine Zweifel, ob ich nun in die USA fliegen oder meine mir gebotene Chance für ein neues Berufsleben nutzen sollte. Ich hatte mich entschieden. Kapitän Linde teilte mir mit, daß ich am 30. April um 11 Uhr bei Flottillenadmiral Ciliax bestellt war. Er wollte sich von mir verabschieden. Ich fand es sehr in Ordnung, daß er das vorhatte, zumal er mich gar nicht so gut kannte, und wir miteinander auf Grund der Kürze der Zeit seit seiner Kommandoübernahme auch gar nichts miteinander zu tun hatten. Ich bestätigte den Termin und widmete mich meinen letzten Aufgaben. Ich nutzte die Zeit, um an den zwei Tagen, die mir blieben, noch einmal durch das gesamte Objekt, von Bereich zu Bereich zu gehen. Ich unterhielt mich noch einmal mit den verbliebenen Zivilbeschäftigten, sprach ihnen Mut zu, und wir erinnerten uns an gemeinsam Erlebtes. Am Montag verabschiedete ich mich in der Offiziersmesse mit einem Essen offiziell vom Nachkommando. Frank Hösel überreichte mir im Namen der Verbliebenen eine Uhr, die noch heute in der Schrankwand unseres Esszimmers steht, der Stabschef schenkte mir zum Abschied ein Buch, die Bhagavad-gita. Alle wünschten mir für meinen beruflichen Neustart alles Gute, vor allem Gesundheit und Erfolg. Kapitän Linde überreichte mir zum Abschied einen Bildband über Deutschland mit einer persönlichen Widmung. Der Abschied vom Küstenraketenregiment fiel mir unter den konkreten Bedingungen nicht schwer. Ich habe Kommandeure und Offiziere mit zwanzig und mehr Dienstjahren gesehen, die bei ihrer Versetzung oder Verabschiedung sehr sensibel reagierten, obwohl sie während ihres gesamten Dienstes ganz harte Brocken waren. Ich empfand in diesen Tagen nicht diese inneren Regungen, die ich eigentlich nach fast zwanzig Jahren Militär hätte empfinden müssen. Mein Gehirn arbeitete in dieser Zeit mehr rational, als daß ich über mein Schicksal traurig gestimmt sein sollte. Ich hatte mir vorgenommen, Schwarzenpfost nicht als letzter zu verlassen. Eigentlich gehört es sich ja in der Seefahrt, daß der Kapitän als letzter das sinkende Schiff verlässt. Aber im KRR-18 gab es ja kaum noch eine Besatzung.
Zum gemeinsamen Abschiedsfoto vor der Messe stellten sich nur noch zehn Berufssoldaten auf und ein paar mehr Zivilbeschäftigte.
Meine letzte Handlung in Uniform führte mich ins Marinekommando Rostock-Gehlsdorf. Dort ging ich zuerst zur Personalabteilung, um mir meine Entlassungsbestätigung aushändigen zu lassen. Korvettenkapitän Ruder überreichte sie mir, ich quittierte und war offiziell aus der Bundeswehr entlassen. Nun ging ich zu meinem Vorgesetzten, den ich nur von der Kommandoübernahme her kannte und der für mich völlig fremd war. Im diesem Zimmer hatte ich öfter beim Chef der Volksmarine gesessen. Auch zu Zeiten Hortens war ich ein paarmal drin gewesen. Jetzt betrat ich nun zum letzten Mal diesen Raum. Flottillenadmiral Ciliax begrüßte mich und bot mir einen Kaffee an. Ciliax kannte mich nur vom Hörensagen. Deshalb kam auch keine Abschiedsstimmung auf, die in solchen Fällen eigentlich üblich ist.
Ich wollte in diesem Gespräch noch einen Gedanken loswerden. Der erste bezog sich auf die Übergabe des gesamten »Rubesh«-Komplexes an die Amerikaner. Ich meinte auch im Sinne der wenigen verbliebenen Raketen-, Rampen- und Kfz-Spezialisten zu sprechen, ihnen den Verbleib im Nachkommando doch etwas attraktiver zu gestalten. Ich ließ ihn wissen, daß es mir prinzipiell egal ist, was durch ihn, durch die Hardthöhe oder durch sonst wen in abschließenden Verhandlungen mit den Amerikanern zur weiteren Nutzung des Raketenkomplexes Rubesh wird. Doch ich befürchtete, daß ein Teil der Operation »Rubesh/Tarantul« gegen den Baum laufen würde. Es gab nur noch einen befähigten Mann für den gesamten Komplex »Rubesh«, das war Frank Hösel und einige Spezialisten für ausgewählte Bereiche der Startrampe: Hauptbootsmann Höne und den Zivilbeschäftigten Suhrbier. Raketenspezialisten fand man nur noch drei oder vier in der RTA-6. Ich machte mir weniger Sorgen um die Probleme der Westdeutschen bei der alsbaldigen Entsorgung der Haupttechnik des KRR nach Amerika, sondern versuchte, die Bedingungen für die genannten Spezialisten zu verbessern. Hösels Informatikstudium dauerte schließlich noch anderthalb Jahre und er war auf seinen Verdienst angewiesen. Daß sich meine bei Ciliax geäußerten Anregungen in einer angemessenen Gehaltszahlung während ihres Auslandeinsatzes verwirklichten, freute mich für die letzten Angehörigen des Küstenraketenregiments. Viel mehr gab es nicht zu besprechen. Eine persönliche Bindung gab es nicht, also kam es zu dem letzten berühmten Händedruck, das war’s. Geradewegs ging ich zum KDL, stieg in mein Auto und fuhr nach Hause. Dort zog ich meine Uniform aus. Der nächste Tag war der 1. Mai. Am frühen Morgen begleitete mich meine Frau zum Bahnhof. Ich setzte mich in den Zug und verließ im Grunde für immer meine Heimat. Ein anderes, neues Leben begann für mich, für meine Familie, für uns alle.
49 – Waffenarsenal, Podzun-Pallas-Verlag, Spezial Band 4, S.45.
50 – Was die amerikanische Seite den Deutschen zusichern musste, wurde im Weiteren auch festgehalten. Dazu gehörten zwei nicht unwesentliche Aspekte. Erstens sind Erkenntnisse aus der Nutzung der Flugkörper sowohl von Bord als auch von den mobilen Startrampen den deutschen Stellen auf Anfrage zur Verfügung zu stellen. Zweitens sollten von den 150 an die USA zu übergebenden P-21/22 (Eine Rakete P-21 kostete der DDR 411.145 Mark, eine P-22 wurde zum Preis von 390.588 Mark importiert) mindestens 25 Raketen als Drohnen bereitgestellt werden. Auf diese Drohnen sollte gegebenenfalls die Bundesmarine in US-Schießgebieten feuern können. Natürlich alles zum Nulltarif.
51 – Spiegel vom 20. 9. 1993, S.16.
52 – Ostseezeitung vom 05.04.1991 S.1.