“Eine Elite-Einheit der NVA rüstet ab” Die ehemaligen Feinde
In diesen Tagen eröffneten sich erstmals für die Streitkräfte beider deutscher Staaten vielseitige Möglichkeiten, sich näher kennenzulernen. Fast alle Soldaten hatten schon privat die Bundesrepublik besucht. Umgekehrt war es nicht anders. Obwohl großes Interesse auf beiden Seiten bestand, blieb man auf Distanz.
Also musste von oben her Bewegung in die Sache gebracht werden. Den Anstoß für eine Reisetätigkeit zwischen Marine Ost und Marine West gab ein kaum bekanntgewordenes Treffen zwischen dem Inspekteur der Bundesmarine, Vizeadmiral Mann, und dem Chef der Volksmarine, Vizeadmiral Born, auf einem Kriegsschiff in internationalen Gewässern vor Bornholm. Möglicherweise stand das Treffen zwischen Gorbatschow und Reagan vor Malta dabei Pate. Über die Einzelheiten ist nicht viel bekannt geworden. Heute behaupten böse Stimmen, dass Born damals die Volksmarine verkauft habe. Ich bezweifle das. Die Ergebnisse dieses und weiterer Treffen waren Bestandteil der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung, die ihre eigene Dynamik hatte.
Ob es ähnliche Bestrebungen in den anderen Teilstreitkräften, Waffengattungen oder Diensten gab, ist mir nicht bekannt. Ich weiß nur, dass die andere Seite die Angehörigen der Volksmarine schon vor der Wende, wenn auch auf Distanz, kannte. Wenn ich zu DDR-Zeiten mit Offizieren der Landstreitkräfte ins Gespräch kam und erzählte, dass es etwas ganz Natürliches sei, wenn sich Schiffe, Boote oder Flugzeuge beider Marinen oder der anderen NATO-Kräfte in bzw. über internationalen Gewässern trafen oder sich gegenseitig begleiteten, war ihr Erstaunen nicht gering. Sie kannten solche Situationen nicht. Nur die Grenztruppen und der Bundesgrenzschutz sahen sich gelegentlich über die Mauer hinweg.
Hinzu kommt, dass die Bundesmarine wie auch die Volksmarine die Seefahrt als etwas Verbindendes betrachtete. Seeleute besitzen ein paar Eigenschaften, die andere Gemeinschaften in ihrer Gesamtheit nicht kennen. Sie wissen sich in allen Situationen selbst zu helfen, ohne vorweg Hilfe von außen anzufordern, und Seemänner verstehen sich untereinander wesentlich schneller und genauer als andere Berufsgruppen.
Versuchte Partnerschaft
Nach der Wende, als die Ereignisse noch auf der Grundlage der Existenz zweier deutscher Armeen abliefen, versuchte man, Partnerschaften zu organisieren. Ich erhielt vom Kommando der Volksmarine einen kleinen Katalog mit Einheiten und Truppenteilen der Bundesmarine, aus dem ich mir eine Einheit aussuchen konnte.
Wir entschieden uns für das Marine-Flieger-Geschwader 3. Es dauerte gar nicht lange, da meldete sich telefonisch ein Oberleutnant Brodersen aus Kiel. Zu dieser Zeit war dies noch ziemlich außergewöhnlich. Auch ich fand das ganz schön eigenartig. Ein Jahr zuvor sprach ich aus Schwarzenpfost noch mit dem Befehlshaber der Baltischen Flotte (das war rein zufällig, ich wollte eigentlich mit dem Kommandeur der Marineinfanteriedivision, Gardeoberst Otrakowskij, in Baltijsk sprechen und hatte plötzlich den obersten Chef in Kaliningrad in der Leitung) und heute klingelte das Telefon für ein Gespräch aus dem MFG-3 der Bundesmarine. Wir stellten uns kurz vor und sprachen über eine eventuelle Partnerschaft. Verbindlich vereinbarten wir noch nichts, aber wir wollten bald einen Besuchstermin festlegen. Aus der Marinezeitung entnahm ich, dass beide Seiten Treffen auf unterer und mittlerer Führungsebene anstrebten. Diese Aktivitäten bekamen durch die Moskauer Beschlüsse eine andere Richtung oder sogar einen Dämpfer. Der Besuch von Angehörigen des KRR-18 in Kiel wurde ausgesetzt.
Die offizielle Politik steuerte offensichtlich einen neuen Kurs. Ein durch die Partnerstädte Grimma und Heiligenhafen vereinbartes Treffen, an dem das Hochsee-Minenabwehrschiff »Grimma« teilnehmen sollte, wurde durch einen Einspruch des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) abgesagt. Es machte also keinen Sinn, etwas aufzubauen, was wir möglicherweise später wieder hätten einstellen müssen. Nicht mehr abgeblasen werden konnte offensichtlich das gemeinsame Konzert der Marinemusikkorps aus Rostock und Kiel am 15. Juli 1990 in Warnemünde.
Viele offizielle Treffen sagte die Bundeswehr nicht ab, sondern setzte sie aus. Wenn sie später dann stattfanden, erfüllten sie schon einen ganz anderen Zweck, als sie ursprünglich haben sollten. Der große Rahmen hieß dann schon »Vereinigung« der beiden Streitkräfte. Wichtigster Zweck dieser Treffen bestand nun für die Bundeswehrführung darin, gezielt Kontakt aufzunehmen, um die Lage in der »anderen Truppe« kennenzulernen, Schlussfolgerungen abzuleiten und letztlich eine Idee zu entwickeln, wie die Volksmarine zu übernehmen ist.
Unter diesem Aspekt fand unter anderem auch das erste Treffen von höheren Stabsdienst- und Truppenkommandeuren der Bundesmarine und der Volksmarine im bergischen Marienheide statt.
Bevor ich mich diesem zweitägigen Seminar zuwende, möchte ich nicht vergessen, daß Anfang April 1991 – Deutschland war schon ein Ganzes – mich Oberleutnant Brodersen aus dem MFG-3 in Schwarzenpfost besuchte. Wir hatten uns zuvor nie gesehen, nahmen uns damals viel vor, stellten aber doch nichts auf die Beine. So tranken wir lediglich Kaffee in meinem Dienstzimmer, und ich freute mich, daß trotz Änderung der politischen Großwetterlage ein klein bisschen von dem hängengeblieben war, was wir eigentlich gewollt hatten.
Offiziere aus Ost und West
Das Zusammentreffen in Marienheide, als Seminar ausgeschrieben, konnte damals noch nicht mit einem offiziellen Anstrich versehen werden. Geheim sollte es aber auch wieder nicht sein. Vielleicht legte man es deshalb in die organisatorischen Hände der Kirche bzw. der Militärseelsorge.
Wir fuhren mit zwei 1500er »Lada«, mit VA-Kennzeichen, vom KVM Rostock in den frühen Morgenstunden des 6. September 1990 ab. Wir trugen Zivil. Uniform nahmen Kapitän Dr. Dix, der Kraftfahrer und ich mit. Denn nach diesem Seminar sollte noch eine Unterredung im BMVg stattfinden. Offizieller Gesprächspartner war Kapitän zur See Dr. Dix, der meine Teilnahme mit Admiral Born abgesprochen hatte. Selbstverständlich war ich interessiert, Dix ins BMVg zu begleiten. Ich freute mich darüber.
Nun trafen wir erst einmal in Marienheide ein, im evangelischen Rüstzeitheim »Feldbischof Franz Dohrheim«. Es begegneten sich erstmals Offiziere der beiden deutschen Marinen unter dem Dach der Kirche.
Es nahmen 20 Offiziere der Bundesmarine und sechs Offiziere der Volksmarine teil. Als Leiter der Volksmarine-Delegation fungierte Kapitän zur See Dr. Dix, aus der 6. Flottille nahm der Brigadechef der 3. Schnellbootsbrigade, Fregattenkapitän Lothar Rötzsch, teil; die 1. Flottille vertrat der Chef des Stabes, Kapitän zur See Bammel, neben mir waren noch zwei jüngere Kommandeure/Kommandanten anwesend.
Vom Führungsstab der Marine des BMVg und der Bundesmarine kamen u.a. die Kapitäne zur See Walter Jablonsky, Hans-Rudolf Schröder, Lauer und Konrad Bürger, die Fregattenkapitäne Ingo Riege, Hans Joachim Thiem, Peter Sattler, Klaus Himmerkus, Ehrhard Orlowski, Reiser, Klinsmann, Saaß, Nitsch, Kessner, Boje, Heckendorn und Behrens, die Kapitänleutnante Knut Schiller, Bernhard Haase und Krause.
Gastgeber waren der evangelische Militärdekan des Wehrbereiches III, Johannes Ottemeyer, der Flottendekan Irmin Barth. Kurze Begrüßung im Vorsaal, leichtes Kopfnicken. Gemeinsames Mittagessen. Einrücken in den Sitzungsraum. Die Tische standen im Quadrat.
Was waren das für Menschen, die nun neben uns saßen? Sie sahen genauso gut gekleidet wie wir aus, unterhielten sich untereinander und versuchten, erste Kontakte zu knüpfen: »Wie war die Fahrt? Ach so, mit dem Pkw sind Sie gekommen. Sind Sie gut durchgekommen? «
Der Gastgeber eröffnete das Seminar. Die Teilnehmer stellten sich kurz vor. Im Stillen ordnete ich für mich die Gesprächspartner zu Gruppen. In der ersten Gruppe platzierte ich jene, die alles interessiert, egal ob wichtig oder nicht – die Oberwisser. Zur zweiten gehörten jene, die ein besonderes Interesse an den Problemen bei der Übernahme der Volksmarine an den Tag legten, oder mehr wissen wollten, weil möglicherweise ihr zukünftiger Dienst im Zeichen der angekündigten Truppenreduzierung stand. Dann saßen noch solche Offiziere in der Runde, die sich persönlich angesprochen fühlten, sich interessierten, etwas von der Volksmarine der DDR zu erfahren. Die Oberwisser schienen in der Überzahl.
Das Treffen hatte einen offiziellen Fahrplan und es redeten eingeladene Referenten. Flottillenadmiral Hundt aus dem Zentrum für Innere Führung in Koblenz beispielsweise erinnerte mich an die Gattung von Politoffizieren aus der Politischen Verwaltung des KVM oder der Politischen Hauptverwaltung des MfNV, die mit ihren Vortragsreihen die Seminarteilnehmer langweilten.
In den darauffolgenden Pausen äußerten sich einige Bundeswehroffiziere, daß sie über ihre »Politniks« nicht anders dachten. Als nächster Referent sprach der ehemalige Sprecher der Schmidt-Regierung, Klaus Bölling, dann der Militärdekan Ottemeyer.
Einen Bischof hatte ich noch nicht kennengelernt. Ich hörte interessiert zu und versuchte, in seine Gedankenwelt einzudringen. Das bewog mich auch, am nächstem Morgen mit Kapitän Dix zur Morgenandacht zu gehen. Wir wollten mal sehen, wie Menschen sich dabei verhielten und welche Rituale dort abliefen. Ich war einfach neugierig.
Bei all den Themen, die den seminaristischen Rahmen um das Treffen spannten, ging es um uns. Die teilnehmenden Kommandeure und Stabsoffiziere der Bundesmarine wussten natürlich wenig über das »innere Leben« der Volksmarine. Wir erzählten ihnen ohne Vorbehalte, auch mit Stolz über unsere Ergebnisse in der Gefechtsausbildung. Ein Frage-Antwort-Spiel begann. Sie stellten die Fragen, wir antworteten. Das war allzu verständlich, bedingt durch die unterschiedliche Interessenlage, und entsprach in keiner Weise einem Verhör.
Die Herren von der Bundesmarine interessierten sich für den Zustand der Truppe, wollten mögliche Risikofaktoren kennenlernen, die Schnittstelle definieren, die sie in wenigen Wochen zu belegen hatten. Die nachrichtendienstliche Komponente stand in dieser Runde, so schätzte ich dieses Seminar ein, erst in nachgeordneter Rangfolge. Da wir aber wussten, daß keiner von der westdeutschen Seite uns eine Antwort auf unsere existentiellen Fragen geben konnte, nahm das Gespräch diesen beschriebenen Charakter an. Zwischendurch stellten einige Offiziere für diese Runde untypische Fragen. »Wie denken Sie denn heute darüber? «, oder es fand sich ein passender Vergleich »bei uns ist das aber so…«
Hin und wieder gebrauchten die westdeutschen Offiziere Redewendungen, die ich das erste Mal hörte. Ich hatte auch das Gefühl, daß sie sehr artikuliert, teilweise blumenhaft, sprachen, begleitet von nicht wenigen Amerikanismen.
Schon während der ersten größeren Kaffeepause scharten sich die Westdeutschen um uns und stellten Fragen. Sie teilten uns auch ihre Meinungen mit, soweit sich Differenzen auftaten. Vorgefasste und überhebliche Meinungen äußerten sie meist da, wo sie vom technischen oder taktischen Standpunkt her meinten, das Non-plus-ultra zu besitzen. Der Chef des Stabes des Flottenkommandos, Kapitän zur See Lauer, war vom data-link-System so überzeugt, daß es mir als Outsider von data-link sehr schwer fiel mitzureden, geschweige ihn von der Vielseitigkeit eines taktischen Seegefechts mit verschiedenartigen Flottenkräften aus der Sicht der VM zu überzeugen. Einerseits konnte ich auf Grund meiner Unkenntnis über data-link seine Äußerungen nur entgegennehmen, anderseits dachte ich nicht einen Moment daran, meine über Jahre gewonnenen praktischen sowie taktischen Erfahrungen über Bord zu werfen.
Die Volksmarine habe sowieso nur veraltete Führungstechnik, die dem hiesigen Stand von vor reichlich zehn Jahren entspreche. Möglicherweise hatte er recht, aber die Verhältnisse während Kampfhandlungen auf einem geschlossenen Seekriegsschauplatz sind doch etwas komplexer, als daß man nur ein Puzzleteil herausnehmen müsste, und sofort auf das Gesamtbild schließen könnte. Hier lernte ich das erste Mal westdeutsche Überheblichkeit und höfliche Arroganz kennen. Die meisten anderen Offiziere verhielten sich toleranter.
Am Abend des ersten Seminartages trafen wir uns im Keller des Rüstzeitheimes. Dort saßen die ostdeutschen Offiziere jeweils an einem Tisch und die westdeutschen Gesprächspartner sorgten dafür, daß über alles gesprochen wurde. Im Verlauf des Abends ergab es sich, daß es in vielen allgemeinen und militärischen Lebensfragen deckungsgleiche Ansichten gab. Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich noch, daß zwischen Offizier und Offizier ein Gleichheitszeichen gesetzt werden könnte. Einen Monat später war ich da schon wesentlich erfahrener.
Übereinstimmung herrschte zwischen den Offizieren aus beiden deutschen Teilen, daß die bisherige friedlich verlaufende Wiedervereinigung ein einzigartiger historischer Prozess sei. Keiner hätte vor Monaten auch nur ansatzweise daran geglaubt, daß Führungsoffiziere beider deutscher Marinen bei einem Glas Bier zusammensäßen und miteinander redeten.
Manchmal hatte ich während dieses Seminars das Gefühl, wie ein Außerirdischer behandelt und irgendwie bedauert zu werden. Warum, das konnte ich mir selbst nicht beantworten. Manchmal hörte es sich an wie: Ach, was habt ihr durchmachen müssen. Ein anderers Mal klang es wie: Ach, wenn ihr wüsstet, was euch noch bevorsteht. Auf jeden Fall setzten diese Gespräche ein Achtungszeichen für mich, die allgemeine euphorische Situation nicht überzubewerten.
Als besonders interessante Gesprächspartner erwiesen sich an meinem Tisch Fregattenkapitän Klaus Himmerkus vom FüM V/3 und Kapitänleutnant Schiller. Beide Offiziere lud ich in das Küstenraketenregiment nach Schwarzenpfost ein. Einen konkreten Termin wollten wir noch telefonisch vereinbaren. Denn was nützt es, viel zu erzählen, sollten sie sich doch selber davon überzeugen, wer wir sind und was wir machen.
Spät, zu mitternächtlicher Zeit, gingen wir auseinander. In meinem Zimmer setzte ich mich auf den Bettrand, nahm die Bibel vom Nachttisch, blätterte ein paar Seiten um und ließ diesen Tag an mir vorbeiziehen. Ich war um viele Erfahrungen reicher geworden. Ich öffnete das Fenster und frische Luft des bergischen Landes strömte in mein Zimmer. Beruhigt verbrachte ich die erste Nacht meines Lebens in einem Hause der Kirche.
Am nächsten Tag setzten wir bis zum Mittag unsere Gespräche fort. Ich berichtete unter anderem über die Situation im Küstenraketenregiment-18 und ließ meine Gesprächspartner wissen, daß unsere Truppe auch unter extremen personellen Engpässen ihre Gefechtsaufgaben erfüllte. Einerseits waren die Offiziere der Bundesmarine interessiert, Neues über eine für sie relativ unbekannte Waffengattung zu erfahren, andererseits vermochten sie nicht, die Küstenraketentruppen in ihr ausgeprägtes bundesmaritimes Denkschema einzuordnen. Nach den Abschlussworten des Hausherren schenkte ich einigen meiner Gesprächspartner vom Biertisch ein Foto vom letzten Raketenschießen 1989 von Kap Taran. Kapitänleutnant Schiller bedankte sich und sinnierte, daß ich für dieses Foto vor nicht allzu langer Zeit mit einer finanziellen Zuwendung von ungefähr 10.000 DM hätte rechnen können. Für die zuständigen Oberwisser besaß das Foto jetzt nur noch Makulaturwert.
Erstmalig spürte ich ein inneres Unwohlsein darüber, daß eines Tages mein bisheriges Leben nur noch aus einem Erinnerungsfoto bestehen würde.
Privatissimum mit Ehrendolch
Kapitän zur See Dr. Dix und ich fuhren dem BMW von Fregattenkapitän Peter Sattler in Richtung Bonn hinterher. Der Weg führte uns durch ein landschaftlich sehr schönes Bergland. Die A4 schlängelte sich durch die Berge und wir hatten Mühe, dem BMW zu folgen. Wir fuhren zuerst zu einem Hotel, in dem Kapitän zur See Dr. Dix untergebracht war. Dort setzten wir ihn ab und fuhren dann ins BMVg. Somit war ich wahrscheinlich der erste Volksmarine-Angehörige, der seinen Fuß offiziell in dieses Ministerium setzte. Ich erhielt ein großes, spartanisch eingerichtetes Zimmer im Offiziersblock.
Am Abend waren wir bei Familie Sattler in Bonn-Röttgen eingeladen. Mit unserem Kraftfahrer, Stabsobermeister Schulz, der in einer Fahrerunterkunft im Unteroffiziersblock schlief, verließ ich das BMVg durch den Haupteingang. Der Wachmann schien leicht angetrunken, blickte mit glasigen Augen und sprach mit lallender Stimme. Die anderen im gläsernen Wachhaus lachten schallend. Nun wusste ich nicht, ob über uns, weil sie ja sehen mussten, daß wir von der NVA waren, oder ob sie immer um diese Zeit einen so abwechslungsreichen Dienst hatten. Tolle Wachgesellschaft, dachte ich mir.
Die Sattlers wohnten in Bonn-Röttgen in einem schönen Haus, modern und großzügig eingerichtet. So bekam ich einen kleinen Eindruck, wie meinesgleichen in ihrer Welt leben. Der Standard war wesentlich höher als meiner, obwohl ich niemals über meine Wohnungen unglücklich war. Neid empfand ich nicht. Ich wollte in erster Linie sehen und darüber nachdenken. Warum ist das so? Worin liegen die Ursachen, daß es solche Unterschiede gibt? Kann man das verallgemeinern?
Sattlers hatten unsere Anwesenheit zum Anlass genommen, auch ihre Freunde einzuladen. Natürlich sprachen wir hauptsächlich über die Einheit Deutschlands, aber auch über private Dinge. Frau Sattler wirkte als Lehrerin nicht nur sehr gebildet, sie vertrat auch engagiert ihre eigene Meinung.
Fregattenkapitän Sattler beschäftigte sich im Stab der Marine mit der Inneren Führung. Sattler zeigte sich fasziniert von unserem Treffen und sagte mehrmals: »Wer hätte sich das je vorstellen können, daß deutsche Offiziere aus Ost und West hier zusammensitzen und gemeinsam diesen Abend verbringen…« Ich glaube gesehen zu haben, daß ihm bei solchen Gedanken gelegentlich die Tränen in den Augen standen.
Ich fühlte, daß die Sattlers uns ihre Freundschaft entgegenbrachten. Ich täuschte mich nicht, denn in der Zukunft trafen wir uns noch öfter dienstlich und privat. Gottlob lernte ich in der Folgezeit noch ähnliche Menschen kennen, die sich genauso herzlich, ehrlich verhielten und vor allem uns als gleichberechtigt ansahen. Sie blieben aber immer in der Minderheit.
Als uns unser Fahrer zur vereinbarten Zeit abholte, stimmten Dix und ich mich unauffällig ab, Fregattenkapitän Sattler ein Geschenk zu überreichen. Stabsobermeister Schulz musste nochmals kurz ins BMVg fahren, um das Geschenk aus meinem Zimmer zu holen. Als Herr Dix dem Fregattenkapitän Sattler einen Ehrendolch der Volksmarine überreichte, konnte er seine Tränen nicht zurückhalten. Für ihn ging wahrscheinlich eine Vision in Erfüllung.
Im Führungsstab der Bundesmarine
Am nächsten Morgen gingen Kapitän Dix und ich in den Führungsstab der Marine. Dort sah ich zu meiner Verwunderung einen Teil der Offiziere wieder, von denen wir uns am Vortage verabschiedet hatten. Das konkrete Anliegen unseres Besuches im BMVg erfuhr ich von Kapitän zur See Dix nicht im vollen Umfang. Dennoch kannte ich ungefähr die zu besprechenden Themen. Hauptsächlich ging es um Grundsatzfragen der geplanten Übernahme der Volksmarine in die Bundesmarine. Es ging genau wie beim Seminar bestimmt nicht darum, nachrichtendienstliche Lücken zu schließen, sondern Kenntnis davon zu bekommen, wie es z.B. mit dem moralischen Zustand in den Flottillen, in den selbständigen Truppenteilen und Führungsstellen bestellt war, worin die jetzige VM-Führung die streitkräftebezogenen Probleme bei der Vereinigung beider deutscher Staaten sah, welche Vorstellungen die Volksmarine hatte und bestimmt auch, wo Gefahren und Risiken auftauchen könnten, die den Einigungsprozeß in irgendeiner Form behindern könnten.
Obwohl ich keine offiziellen Aufgaben zu erfüllen hatte, fand ich viele Gesprächspartner im Führungsstab.
Da ich viel mit Kapitänleutnant Schiller sprach, bat ich ihn, meine vorsorglich mitgebrachten Bewerbungsunterlagen einmal zu lesen, mir einige Tipps zum Verbessern zu geben. Es ging in erster Linie um Wortwahl und Formulierung. Kapitänleutnant Schiller arbeitete nicht nur als Redaktionsmitglied der maritimen Zeitschrift »Blaue Jungs«, sondern auch in der Personalabteilung im Führungsstab der Marine. Er verfügte also über weitaus größere Erfahrungen als ich. Beeindruckt über meinen bisherigen Lebensweg äußerte er, daß ich mit solch einer Entwicklung und den vorliegenden Einschätzungen außerhalb der Streitkräfte große Chancen hätte. Im ersten Augenblick beruhigt so etwas, macht sogar stolz. Aber dann wurde ich sofort wieder skeptisch.
Mir wurde auf einmal klar, daß ich in meinem Berufsleben zum ersten Mal ernsthaft den Gedanken geäußert hatte, die Marine zu verlassen.
Eine neue Phase in meinem Leben begann. Das bedeutete für mich: Solange wie notwendig bei der Marine bleiben und beim besten Angebot das nicht mehr zu rettende Schiff verlassen. Diese Erkenntnis wollte ich auch meinen Unterstellten vermitteln. Ich brauchte dazu nicht einmal einen Monat. Die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR tat das Ihrige dazu.
Zu unseren Gesprächen im Dienstzimmer des Kapitänleutnants Schiller gesellte sich manchmal Fregattenkapitän Langen vom Presse- und Informationsstab. Wir unterhielten uns über politische und militärische Probleme. Gemeinsam gingen wir zum Mittagstisch in die Cafeteria. Die meisten vorbeigehenden Offiziere grüßten mich, ich grüßte zurück und erwies auch allen Dienstgradhöheren meinen militärischen Gruß. Eigenartig erschien mir, daß es Grußerweisungen auch ohne Kopfbedeckung gibt. Es wirkt noch heute auf mich, viele Jahre danach, als eine unmilitärische Geste.
Der tägliche militärische Umgang in der Bundeswehr sowie ihr äußeres Erscheinungsbild war für mich, für einen in der Sowjetflotte ausgebildeten und in der NVA großgewordenen Offizier, zumindest gewöhnungsbedürftig. Dazu gehörte auch, daß im Führungsstab der Bundesmarine – im Unterschied zu unseren Flottillenstäben oder anderen Gebäuden der NVA – fast alle Türen zu den Dienstzimmern sperrangelweit aufstanden. Natürlich lag das nicht allein an der größeren Geheimhaltung in der NVA. Man gab sich hier offensichtlich offener, im wahrsten Sinne des Wortes. Für mich ganz praktisch. Ich konnte in die Dienstzimmer schauen und entdeckte hier und da bekannte Gesichter aus Marienheide. So passierte es, daß ich aus dem einen Zimmer herauskam und gleich in das nächste hineingebeten wurde. Natürlich lag es auch daran, daß ich in der Marineuniform der NVA im Führungsstab der Bundesmarine ziemlich exotisch wirkte.
Inhalt