Neue Strukturen

“Eine Elite-Einheit der NVA rüstet ab” Neue Strukturen

Anfang Mai fand eine erste Kommandeurstagung des neuen Ministers im Tagungszentrum des MfAV in Strausberg statt.

Im großzügig und modern gestalteten Operativen Tagungszentrum erwarteten ungefähr 500 Offiziere, Generäle und Admirale den neuen Minister. Jeder erwartete Neues von dieser ersten Kommandeurstagung nach der Wende. Rainer Eppelmann erschien pünktlich mit seinen Sekretären und dem Chef der NVA, Theodor Hoffmann. Erstmalig saßen NVA-Offiziere einem zivilen Minister gegenüber, einem bekannten Pazifisten und Pfarrer.

Eppelmann strahlte Ruhe aus, überlegte genau, was er sagte und hatte sich brillant auf seinen ersten Auftritt vorbereitet. Er stellte sich schlicht und einfach vor, verband seine Vergangenheit mit unserer Zukunft und sagte, er habe in seinem Leben mehrmals den Beruf gewechselt, und er sehe es nicht als Verbrechen an, wenn viele der Anwesenden hier in naher oder ferner Zukunft ähnliche Wege beschreiten müssten. Dieser Gedanke gab mir Kraft und ich sagte mir, was ein Eppelmann kann, bewältige ich schon allemal.

Der Minister präsentierte sich überzeugend und realistisch, man könnte sogar sagen zukunftsorientiert. Über die Auflösung der NVA sprach er nicht. Er ging auf die große Politik ein und bezog sich auf die naheliegenden Aufgaben.

In Erinnerung sind mir der Beitrag der NVA bei der Friedenssicherung, bei der Reduzierung der Waffen, die Offenlegung der Aufgaben, die Strukturen und die Zusammenarbeit in einem bündnisübergreifenden europäischen Sicherheitssystem. Beide deutsche Armeen hätten eine Brückenfunktion in ihrem jeweiligen Paktsystem, das klang in dieser Zeit überzeugend und war es wohl auch in unserem Verständnis.

Er nannte die Aufgabe, den Personalbestand der NVA von 168.000 Mann zunächst auf 100.000 Mann zu reduzieren. Das war, glaube ich, sein Hauptziel. Den Ansatz dazu hatte er zu diesem Zeitpunkt relativ gut in den Griff bekommen. Weiterreichende, einen längeren Zeitraum betreffende Vorstellungen äußerte er nicht.

Die Freude über Reduzierung des Personals hielt sich zwar in Grenzen, aber es beruhigte uns, dass in die NVA wieder Ordnung einziehen sollte. Niemand dachte in diesem Moment an einen totalen und überstürzten Anschluss der DDR an die Bundesrepublik im nächsten halben Jahr. Auch Eppelmann nicht, sonst hätte er nicht solche Aufgaben gestellt. Das wichtigste für uns: Die NVA sollte, zwar mit einem stark geminderten Bestand, als Wehrpflichtarmee weiter existieren. Eppelmann wollte stabilisieren, um anschließend zu reduzieren und dann irgendwann bis zum Anbruch des neuen Jahrtausends Strukturen, Aufgaben und Bestände von Bundeswehr und NVA zu verschmelzen.

Nachdem der Minister seinen durchweg gelungenen ersten Auftritt vor den Kommandeuren beendet hatte, redete Admiral Hoffmann, der alte und gleichzeitig neue Chef der NVA. Er sprach so, wie wir es von ihm kannten, ruhig und überzeugend. Nach der Rede des ehemaligen Pfarrers sprach jetzt aber ein Militär.

Admiral Hoffmann beschrieb die Hauptaufgaben der NVA in der gegenwärtigen Umbruchphase, erläuterte die Größe und die Strukturen und widmete sich anschließend ausführlicher den Fragen der Ausbildung und des Gefechtsdienstes. Es war wie immer, nur dass kein oberster Politchef die Linie gab.

Über die Zukunft der Standorte konnte auch der oberste Soldat der NVA nichts sagen. Doch das regte niemanden auf. Selbst wenn im Ergebnis von Wien I oder den Zwei-plus-vier-Gesprächen dieser oder jener Standort fallen würde, hätten das die Kommandeure verstanden.

Neu war, dass bei der Streitkräfteplanung, bei bevorstehenden Strukturveränderungen, die Teilstreitkräfte, sogar die betroffenen Truppenteile und Verbände weitestgehend mit einbezogen werden sollten. Das hatte es in der Vergangenheit nicht gegeben. An solchen Vorgängen beteiligten sich früher in der Regel nur die höchsten Vorgesetzten und Geheimnisträger der entsprechenden Ebenen.

Der Chef der NVA forderte: »Nach Bestätigung der personellen Größe sowie der materiellen und finanziellen Fonds für die Verteidigung durch die Volkskammer müssen die erforderlichen Strukturdokumente erarbeitet werden, um noch in diesem Jahr mit der durchgängigen Reorganisation der NVA beginnen zu können. Es ist vorgesehen, den Übergang zu den neuen Strukturen schrittweise bis zum Jahre 1993 zu vollziehen.«30

Ein bisschen Stolz empfand ich, dass wir im KRR-18 schon ordentlich vorgearbeitet hatten. In monatelanger Kleinarbeit entwickelte der Stabschef mit den Stellvertretern des KRR-18 sowie den Mitarbeitern der Stabsabteilung Operativ des Kommandos der Volksmarine eine neue Struktur des Küstenraketenregiments und passte es bis ins Detail an die zukünftigen Bedingungen der Strukturentwicklung der Seestreitkräfte an. Er nutzte dabei alle Vorteile der Gefechtsmöglichkeiten der Küstenraketenkräfte sowie die wertvollen Erfahrungen, die wir mit der personellen Reduzierung des Personalbestandes im KRR-18 gewonnen hatten.

Übernahme oder Auflösung

Schon Ende April verließen wieder eine Reihe von Grundwehrdienstleistenden und Unteroffizieren auf Zeit das Regiment. Und Anfang Mai kamen neue Wehrpflichtige – die allerletzten im Küstenraketenregiment der Volksmarine. Auch sie bemühten sich, ihren Dienst ordentlich zu absolvieren.

Sie lernten aber schon die NVA nach der Militärreform kennen. Ihr Dienst am Vaterland war also nicht so entbehrungsreich wie früher. Sie empfanden das als angenehm. Doch wenn die Vorgesetzten die Dienste planten und dabei beispielsweise die neue Regelung der Freizeit berücksichtigten, brach das blanke Chaos aus. Mit Unverständnis standen wir diesen neuen Festlegungen hinsichtlich der Zweckmäßigkeit und des gesellschaftlichen Nutzens solcher eindeutig von der Bundeswehr übernommenen Regelungen gegenüber. Wir Soldaten der NVA agierten und reagierten immer entsprechend der vorgebenen Sicherheitsinteressen. Natürlich gebe ich zu, dass da auch sehr übertrieben wurde. Die Ursachen liegen aber in der Geschichte des 20. Jahrhunderts und in der daraus abgeleiteten Politik der Sowjetunion und der sozialistischen Staatengemeinschaft. Die Anordnung Nr.1/90 des Ministeriums und ähnliche Verfahren des Überstundenabbaus waren und sind für mich ein Selbstbetrug. Und solche Arbeits- und Lebensauffassung dient auch nicht der Ausprägung soldatischer Eigenschaften wie Mut, Durchhaltevermögen, Unterordnung, aber auch »Zähnezusammenbeißen«. Die neuen Soldaten begriffen sehr schnell, wie man Wehrdienst zu leisten hat. In erster Linie »Klappe halten«, zweitens dem Vorgesetzten nicht widersprechen und drittens den aufgetragenen Job so zu erfüllen, dass keine Mängel auftreten, wenn möglich sogar mit einem Schuss Eigeninitiative. Das waren die Grundregeln, und was konnte dann noch schiefgehen? Das Ziel war fast ausnahmslos der Wunsch, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Egal ob zum täglichen Feierabend, zum Wochenende oder am Wehrdienstende.

Begriffe wie gefechtsnah gab es zu dieser Zeit nicht mehr. Wer wollte sich denn noch militärisch für die Verteidigung des untergehenden Vaterlandes trimmen lassen. So übernahmen die Berufssoldaten meistens die klassischen militärischen und Gefechtsaufgaben, und die Grundwehrdienstleistenden setzten wir größtenteils in den Rückwärtigen Diensten ein.

In den folgenden Tagen des Monats Mai stabilisierte sich die Volksmarine weiter. Regelmäßig fanden wieder Beratungen und Besprechungen in den unterschiedlichsten Ebenen statt. Sie unterschieden sich aber im Inhalt, durch die Teilnehmer und auch in den Ergebnissen von den bisherigen Zusammenkünften vor der Wende. Man redete offener und es entsprach der Aufgeregtheit dieser Zeit, dass dieser oder jener Kommandeur auch einmal so richtig Dampf abließ.

Ich erinnere mich einer Kommandeurstagung der Volksmarine am 26. Juni 1990 auf dem Dänholm. Vorausgegangen war eine sehr offene Besprechung mit 47 Kommandanten, sieben Brigade- und vier Abteilungschefs aus allen drei Flottillen der Volksmarine.

Am darauffolgenden Tag berieten wir dann mit den Kommandeuren ab Ebene Kompanie der landgestützten Einheiten. Nachdem der Chef der Volksmarine einen optimistischen Ausblick gegeben hatte, ging es um Dienstmotivation, unklare Dienstanweisungen, Gefechtsdienstvorschriften, Hindernisse bei der Umsetzung der neuen Dienstzeitanordnung, Einbeziehen der Truppe in die Entscheidungsfindung und natürlich die Sorge um die Wartung und Pflege der Kampftechnik mit immer weniger Fachpersonal.

Dann warf Kapitänleutnant Fiß von der Raketentechnischen Abteilung der 6. Flottille eine Frage auf, die wir eigentlich meinten, vorerst aus der Welt geschafft zu haben. »Sind Sie (er meinte die Anwesenden) wirklich so blauäugig und wollen wirklich annehmen, dass Sie auch nur einen Bruchteil von Chance haben werden, wenn es ein geeintes Deutschland gibt, dass Sie gleichberechtigt und endgültig übernommen werden?« Das war ein wichtiger Moment in meinem Leben. Plötzlich war mir klar, dass sich bei mir eine gewisse Leichtgläubigkeit eingeschlichen hatte, die mich und damit auch in meiner Funktion als Kommandeur paralysierte, richtige Entscheidungen zu treffen. Von diesem Zeitpunkt an stellte ich mich auf zwei Varianten der Zukunft der Volksmarine ein: Die Übernahme als gleichberechtigter Partner in die Bundesmarine und die Auflösung der Volksmarine. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass gerade jener Diskussionsredner, der mich in die Realität holte, noch lange nach der Vereinigung Deutschlands im Auftrag der Bundeswehr im In- und Ausland Aufgaben erfüllte.

Suche nach Interessenvertretung

Eine der neuen Einrichtungen, über die ich mir eine Meinung bilden musste, war der Verband der Berufssoldaten (VBS). Zuerst bildeten sich dazu im Kommando der Volksmarine, dann in den Flottillen Initiativgruppen. Auf dem 1. Verbandstag wurden auch drei Offiziere der Volksmarine in den vorläufigen Hauptvorstand gewählt. Es begann eine Zeit, in der alles vorläufig zu existieren begann. Das rief Zweifel hervor und ließ genügend Raum für Spekulationen. Der Verband bekam aber aus allen Teilstreitkräften regen Zulauf. Wir im Küstenraketenregiment waren etwas skeptischer. Wir wollten keinen Einheitsbrei, sondern unsere Vorstellungen berücksichtigt sehen: spezielle Interessen der Angehörigen der Küstenraketentruppen, ihre historische Entwicklung, ihr zugeordneter Platz in der Flotte und natürlich der eigene Waffenstolz. Angehörige des KRR-18 gründeten den Verein »Harpune 90 e.V«. Wir ließen ihn ordnungsgemäß registrieren und beschlossen eine Satzung . Das erste Mal trafen wir uns am Himmelfahrtstag 1990. An diesem Tag feierten wir am Strand von Rosengarten, der noch Sperrgebiet war. Zu diesem ersten Treffen des Vereins kamen ungefähr 20 Mann. Wir spielten Fußball, wetteiferten im Hammerweitwerfen und zu vorgeschrittener Stunde schritten wir zu einer Mutprobe. Jeder musste mit einem vollen Schnapsglas auf den glitschigen Buhnen zirka hundert Meter gehen, der See die Ehrenbezeichnung machen, das Glas leeren und dann wieder zurückkommen. Diese Aktion zeigte mir, dass es eine innere Kraft, einen Zusammenhalt in dieser Truppe gab, den ich in keiner anderen Einheit jemals verspürt hatte. Wir beschlossen einstimmig, uns wieder in dieser Runde zu treffen.

Schon ein paar Tage später gab mir der ehemalige Kommandeur des Regiments zu verstehen, dass durch das Küstenraketenregiment die Verbandsarbeit in der Volksmarine nicht zersplittert werden dürfe. Das wäre auch die Meinung des Chefs der Volksmarine. Mit mehr Mitgliedern im Verband der Berufssoldaten stiege die Akzeptanz und man könne die Interessen der Berufssoldaten der NVA im vereinigten Deutschland besser vertreten. Ich wollte auf keinen Fall der »Harpune e.V«. schaden, trat aber doch in den VBS ein. Mein damaliges diplomatisches Verhalten war ein Fehler. Vom VBS habe ich nichts bekommen. »Harpune« hätte bestimmt auch heute noch mindestens mit einer Stammtruppe existiert, wenn der Verein durch mich damals pfleglicher behandelt worden wäre. Am 9. Mai 1991 kamen wir nochmals zusammen. Ich war schon nicht mehr bei der Marine und fuhr 1.000 Kilometer, um wenigstens noch einmal die Kernmannschaft des Küstenraketenregiments zu sehen. Seitdem habe ich nie wieder etwas von »Harpune« gehört.

Militärdiplomaten im Regiment

Das Küstenraketenregiment bekam mal wieder offizielle Gäste. Die in der DDR akkreditierten Militärdiplomaten wollten während eines Besuches der Marine auch in unser Regiment kommen. Die ideale geographische Lage, nicht weit von Rostock, war wohl der Hauptgrund.

Neugierig fragten wir uns: Wieviel Attachés sind in der DDR akkreditiert? Welche Fragen werden sie stellen? Was interessiert sie? Wie werden sich meine Unterstellten auf diplomatischem Parkett verhalten? Mehrarbeit verursachte der Besuch jedenfalls nicht. Denn nicht nur im Objekt herrschte Ordnung, auch in den Köpfen der Angehörigen war vieles klarer als anderswo. Also konnte nichts schief gehen. Der Chef des Stabes des Kommandos der Volksmarine und ich begrüßten die Gäste. Es war schon eine bunte Truppe, nicht wegen der verschiedenen Nationalitäten, sondern auch wegen der Uniformen. Ich stellte das Küstenraketenregiment vor, erläuterte die Struktur und zeigte einen 15minütigen Film über das letzte Raketenschießen. Die Delegation sah alles, was wir zu bieten hatten, so war es bei jeder Besichtigung, egal wer uns besuchte. Wir wollten auch diesen Militärs aus vielen Ländern zeigen, dass in der Volksmarine die Soldaten ihren Auftrag pflichtbewusst und loyal der neuen Regierung gegenüber erfüllten und für niemanden eine Bedrohung darstellten. In diesem Sinne dankte der Doyen, Oberstleutnant Abdel Menem Al-Amouri, Militärattaché bei der Botschaft der PLO für die Möglichkeit, das Küstenraketenregiment besichtigen zu können und schrieb sich ins Gästebuch ein.

Den Abend verbrachte ich mit meiner Frau inmitten der Gäste an Bord der »Freundschaft« in Rostock-Schmarl. Wir saßen gemeinsam am Tisch mit Oberst Dshamow aus Bulgarien und Großoberst Pak Tä Sok aus der Koreanischen Demokratischen Volksrepublik und deren Ehefrauen.

Offene Gespräche

In dieser Zeit veränderte sich auch das Verhältnis zwischen dem neuen Chef der Volksmarine und allen seinen direktunterstellten Kommandeuren. Vizeadmiral Born schuf ein Forum, bei dem sich die Kommandeure mit ihrem Chef unkonventionell beraten und Gedanken austauschen konnten. Eine von oben angeordnete Linie hätte unweigerlich zum Misserfolg bei der Truppenführung geführt. Einmal im Monat trafen wir uns entweder im Gästehaus der Volksmarine oder anderswo. Da saßen erfahrene und ältere Offiziere und Admirale sowie jüngere und in der Truppe anerkannte Kommandeure. Zu ihnen gehörte auch ich. Bei den Gesprächen war das Wort eines jungen Kommandeurs wie Fregattenkapitän Gert Wilhelm, Kommandeur des Marinehubschraubergeschwaders-18, genauso gefragt, wie der beruhigende und klangvolle Bass des Konteradmirals Kahnt von der Offiziershochschule der Volksmarine. Bei diesen Zusammenkünften informierte erst der Chef, dann berichteten alle Kommandeure über ihre Erfahrungen.

Diese Art von Informationsaustausch, auf der Basis wahrheitsgemäßer und tatsächlicher Darstellungen, war einer der Schlüssel fürs Überleben der Einheiten, Truppenteile und Verbände. Es gab wahrscheinlich in diesen Tagen keinen Vorgesetzten in den Reihen der NVA, der glaubte, alles von sich aus richtig zu machen oder die Lage voll im Griff zu haben. Durch ein ständiges Abwägen der Befehle und Weisungen, durch ein Solidaritäts- und Zusammengehörigkeitsgefühl bekam die Volksmarine die Führung ihrer Kräfte besser in den Griff als in der Vergangenheit und als in anderen Teilstreitkräften, Waffengattungen oder Diensten.

30 – Theodor Hoffmann »Das letzte Kommando«, Mittler und Söhne, S.231.

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