“Eine Elite-Einheit der NVA rüstet ab” Die Militärreform
Im November 1989 begann mit der Wende in der DDR auch die Militärreform in der NVA. Ich möchte beschreiben, was in der Volksmarine und in unserem Regiment von der vom Ministerium verordneten Reform ankam und wie wir darüber dachten. Und vor allem, wie wir unseren Dienst im Truppenteil, lange bevor man darüber sprach, reformiert hatten.
Es ist nicht ganz richtig, wenn das von sechs Mitgliedern des Wissenschaftlichen Rates für Friedensforschung an der Akademie der Wissenschaften der DDR im November 1989 veröffentlichte Dokument »Militärreform in der DDR – Denkanstöße und Vorschläge« die erste zaghafte Suche nach einer neuen politisch-geistigen Grundlage für die künftigen Streitkräfte gewesen sein soll.
Das Demokratisierungskonzept
Die ersten Auswirkungen der Militärreform in der Truppe, die jeder Soldat wahrnahm, waren die Abschaffung des Frühsportes, die Erlaubnis für Wehrpflichtige, Zivil zu tragen und am Abend die Kaserne zu verlassen, um zu Hause zu schlafen. Die Anrede mit Herr und Dienstgrad störte uns genauso wenig, wie die bisher gebräuchlichen Worte Genosse und Dienstgrad. In meiner gesamten Dienstzeit erlebte ich nie, dass ein Nicht-SED-Mitglied sich wegen dieser Anrede mit seinen Vorgesetzten angelegt hätte. Abgesehen davon, dass die NVA diese Anrede von der Sowjetarmee übernommen hatte, gibt es ja auch den parteifernen Begriff Kampfgenosse. Und der trifft ja wohl für eine Armee zu. Es dauerte aber gar nicht lange, bis wir von der Bundeswehr die Anrede »Herr« übernahmen.
Am 20. November 1989 fand eine Kommandeurstagung zur Einführung der Militärreform statt. Admiral Hoffmann stellte das Demokratisierungskonzept der NVA vor. Es gilt als das letzte Schlüsseldokument der Militärpolitik der DDR28 und bildete eine wichtige Grundlage für weiterführende reformpolitische Aktivitäten in der NVA. Mit dem Volkskammerbeschluß zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland brachen Aktivitäten zur Militärreform abrupt ab.
Eine erste reformerische Aktivität war die Einrichtung eines Konsultationspunktes Militärreform im Rostocker Ständehaus. Viele Armeeangehörige nutzten diese Anlaufstelle, um Probleme anzusprechen, Frust abzuladen und Vorschläge zur Erneuerung zu unterbreiten. Aber auch Bürger der Stadt Rostock und des Landkreises meldeten sich dort. In den ersten Wochen gingen über vierhundert Anregungen ein.
Viele in früheren Zeiten gefasste Vorsätze militärischer und parteipolitischer Mitbestimmung in den Streitkräften ergossen sich nun von der obersten Führungsebene wie ein sprudelnder Quell über uns. Dazu gehörten die »richtigen Maßnahmen zur Durchführung der Militärreform«. Die betrafen in erster Linie die Trennung der NVA von der führenden Partei und damit von der marxistisch-leninistischen Weltanschauung.
Nach dem Vollzug begann die Suche nach einem neuen Wehr- und Dienstmotiv.
Der Befehl Nr. 6/90 über die Organisation und Führung der staatsbürgerlichen Arbeit in der Nationalen Volksarmee wurde am 16. Januar 1990 erlassen. In einer Rede des Ministers hieß es dazu, Inhalt und Form der staatsbürgerlichen Arbeit müssten dem Pluralismus Rechnung tragen und eigene Meinungsbildung sowie Wahrnehmung demokratischer Verantwortung ermöglichen und fördern.
Wenn ich aus heutiger Sicht die NVA, ihre Struktur, Organisation und Kaderbesetzung betrachte, so ist es bestimmt berechtigt festzustellen, dass es sich bei der NVA um keine Armee in einer Demokratie handelte. Aber trotzdem spürte ich während meiner aktiven Zeit nie, dass ich in einer im Verhältnis zur Bundeswehr demokratiefeindlichen Armee diente. Wenn ich aber jetzt Veröffentlichungen über die NVA lese, müssen Verletzung der Menschenwürde, Gesetzesbruch und unerträgliche Indoktrination wohl in allen Dienststellen auf der Tagesordnung gestanden haben, nur immer nicht da, wo ich gerade meinen Dienst versah. Eigenartig!
Spätestens zu dem Zeitpunkt, als der Bevollmächtigte für die Militärreform, Generalleutnant Klaus Baarß, über ein neues Wehrdienst- und Soldatengesetz diskutieren ließ, in dem u.a. die Stellung des Soldaten der NVA gesetzlich abgesichert und gegenüber seinen Pflichten abgegrenzt werden sollte, griff auf einmal nicht mehr die angestrebte Demokratisierung der NVA. Das sichtbare Vorbild war eindeutig die Bundeswehr. Nur bekannte sich die DDR-Regierung nicht so zu ihren Soldaten wie die Bundesregierung zu den ihren.
Wahl der Soldatenvertretungen
Der Prozess der Militärreform erreichte in den Monaten März und April seinen Kulminationspunkt. In jedem Truppenteil wählten Armeeangehörige aller Dienstgradgruppen Sprecher oder Soldatenvertretungen. Am einfachsten und schnellsten lief das in meinem Regiment bei den Mannschaftsdienstgraden ab. Auch die Unteroffiziere benannten ihren Vertreter, erst ganz zum Schluss, als das Regiment aufgelöst wurde, wählten die Offiziere. Das war kein Ausdruck von demokratischem Unverständnis. Nein, wir brauchten eine solche Funktion einfach nicht, weil wir uns, zumindest in der Truppe, immer die Meinung sagen konnten und auch befähigte Truppenführer sich stets für die Belange der Truppe einsetzten.
Die Arbeit mit den Soldatenvertretungen erwies sich besonders dort als notwendiges Führungsmittel, wo den Kommandeuren die Führung aus den Händen glitt. Im Küstenraketenregiment nutzten wir diese Einrichtung zwar als neuen Bestandteil der Truppenführung, aber nicht als Heilmittel, um durch das alte System entstandene Gebrechen zu kurieren.
Eine Nachricht schlug im Januar 1990 bei mir und im gesamten Regimentsstab wie eine Bombe ein: Streik im Standort Beelitz. Streik in der NVA? Nichts war mehr unmöglich.
Als wir den 24-Punkte-Forderungskatalog der Soldaten und Unteroffiziere aus Beelitz lasen, schüttelten wir, und damit meine ich keineswegs nur die Berufssoldaten, mit dem Kopf über das absolute Versagen einer wahrscheinlich unfähigen Führungsmannschaft im Objekt Beelitz.
Kein Unteroffizier, kein Fähnrich, kein Offizier und auch kein Matrose in meinem Regiment wollte auch nur annähernd in Zustände geraten, wie sie offensichtlich in Beelitz herrschten. Jahre später las ich über die eigentlichen Zusammenhänge in Beelitz. Es bestätigte sich, dass die ursächlichen Gründe in subjektiven Fehlern lagen. Viele Vorgesetzte hatten versagt, vom zuständigen Zugführer bis zum Kommandeur des Truppenteils.
Die Innendienstvorschrift
In allen Truppenteilen gründete man nun auf Empfehlung des MfAV Arbeitsgruppen »Militärreform«. In diese Zeit fiel auch die Überarbeitung der Innendienstvorschrift DV 010/0/003. In unserem Regiment diskutierte eine entsprechende Arbeitsgruppe mit allen Dienstgradgruppen diese Vorschrift und erarbeitete Vorschläge. Die Arbeitsgruppe im KRR-18 leitete Korvettenkapitän Herfter, ein ehemaliger Kampfschwimmer und ein äußerst zuverlässiger sowie akkurater Mensch und Soldat. Natürlich erzielten die Vorschläge in den Wirren dieser Zeit keine durchschlagende Wirkung mehr. Immerhin versuchten wir, den Innendienst der Streitkräfte umzukrempeln. Früher wäre das einfach nicht denkbar gewesen. Das Besondere schien mir nicht in erster Linie die inhaltliche Diskussion, sondern die Art und Weise, etwas Neues auszuprobieren, ohne administrative Hemmschwellen Lösungen zu suchen, Meinungen zu sammeln, um dann die mit dem größten Nutzen auszuwählen. Es gab früher oder später keine Zeit mehr, die solch kreatives Denken zuließ. Wir glaubten, dass es immer so bleiben würde. Ein Irrtum.
Jedes Mal, wenn Andreas Herfter von den Treffen aus dem Ministerium zurückkam, berichtete er mir über seine Eindrücke und die geleistete Arbeit am Entwurf der neuen Innendienstvorschrift. Es begann die Zeit, in der man sich immer mehr der Bundeswehr anpasste. Ganz langsam, aber unübersehbar. Natürlich ließen wir nichts unversucht, das eigene Image der NVA einzubringen. Doch vieles wurde zerredet, nicht immer das Wesentliche erkannt und alles reformiert, was auch nur noch einen Hauch von DDR verströmte.
Geregelte Arbeitszeit
Als Clou der Militärreform empfanden wir die Einführung der 45-Stunden-Woche. Diese Nachricht versetzte so manchem Truppenteil den Gnadenstoß. Selbstverständlich fand die äußerst populäre Maßnahme bei vielen Unterstellten Anklang. Doch es gab absolut keine materiellen und personellen Voraussetzungen dafür. Eine typische Aktion dieser Zeit. Die Truppen waren durchgehend personell geschwächt. Eine ordnungsgemäße Ausbildung gab es in den meisten Truppenteilen schon gar nicht mehr. Bewachung der Objekte, die Wartung der Technik sowie die Vorbereitung der Reorganisierung der Streitkräfte und das zermürbende Warten auf den Fortgang der Dinge beschäftigten die Armeeangehörigen und Zivilbeschäftigten.
Der durch Gefechts- und Mobilmachungsbereitschaft hochgetrimmte Militärapparat taumelte wie ein in Ruhe versetzter Leistungssportler, der nicht ans Abtrainieren denkt.
Wie sollten wir bei dem Personalbestand unser Objekt Schwarzenpfost bewachen. Unser Entschluss bewährte sich, dafür Ex-Militärforstangehörige einzustellen. Die begannen gerade, das oft demotivierte militärische Wachpersonal abzulösen. Ein wichtiges Problem, das sich in vielen Objekten von Entlassung zu Entlassung immer mehr zuspitzte, hatten wir rechtzeitig entschärft. Anträge zur Einrichtung von Zivilplanstellen bestätigte das Kommando der Marine nicht mehr.
Die Anordnung zur Arbeitszeitregelung traf bei uns Ende Februar 1990 ein, also einen Monat später, als sie hätte schon umgesetzt werden müssen. Die Verantwortlichen für Waffen, verschußbereite Raketen, Munition und vor allem die Soldaten im Objekt konnten angesichts dieser Anordnung nicht so richtig lachen. Ich suchte einen Kompromiss, delegierte vor allem Verantwortung in die zuständigen Einheiten. Der Stabschef erarbeitete mit dem Stellvertreter Ausbildung und mir einen Entwurf, wie wir diese Anordnung im Küstenraketenregiment-18 umsetzen konnten. Der Entwurf ging zur Diskussion in die Truppe. Zwar fanden die Mannschafts- und Unteroffiziersdienstgrade die Arbeitszeitregelung sehr gut, doch sie waren auch an einem gewissen Maß militärischen Lebens, Ordnung und Sicherheit interessiert. Ende März beendeten wir das Pamphlet und zum 1. April 1990, also über zwei Monate später, bestimmte es den Dienst im Truppenteil »Waldemar Verner«. Die Festlegungen blieben bis zum 2. Oktober 1990 verbindlich und funktionierten in der gesamten Übergangsperiode problemlos.
Ein weiterer Punkt der Militärreform bestimmte die 50-Prozent-Regel für Ausgang und Urlaub und den Verbleib des Personalausweises und Reisepasses der DDR am Mann.
Die Kosten-Nutzen-Analyse
Aus heutiger Sicht unterteile ich die Militärreform in zwei Etappen. Die erste, die NVA-interne Etappe, geschah durch die Streitkräfte für die Streitkräfte. Bedingt durch die Entwicklung in der DDR, absolvierten sie die militärische Führung und natürlich die Soldaten mit mehr oder weniger Erfolg. Die Politik spielte eine nachgeordnete Stellung.
Die zweite Etappe besaß einen rein politisch-ökonomischen Ansatz. Das wurde mir klar, als der führende SPD-Abrüstungsexperte Egon Bahr die Marine besuchte, um sich als Berater von Minister Eppelmann einen Überblick über die Streitkräfte zu verschaffen. Gemeinsam mit dem Chef Volksmarine weilte Egon Bahr in der 4. Flottille. Zur Begutachtung stationierte ich auf Befehl eine Startrampe im zehn Kilometer entfernten Warnemünde.
Der Chef der Volksmarine wollte mit dieser Vorführung wenigstens einige Waffensysteme und damit auch einen Teil der Volksmarine retten, der Gast wollte sich ein Bild von dem machen, was eventuell kostengünstig, im Vergleich zu den bisherigen operativen Vorstellungen der Bundesmarine, in die vereinten deutschen Streitkräfte übernommen werden könnte.
Es war ein nebliger Tag. Wir standen auf dem großen Exerzierplatz im Stützpunkt Warnemünde, als Vizeadmiral Born und Egon Bahr auftauchten. Als ich die Zweckbestimmung und wichtige taktisch-technische Daten erklärte, fragte mich Bahr nach den Kosten. Ich nannte ihm den Preis in DDR-Mark. »10 Millionen DM für jede Startrampe«, mehr sagte er nicht, bedankte sich und verschwand wie er gekommen war. Später las ich in der 17. Ausgabe der Zeitschrift »trend« einen Beitrag von ihm. »Ich (brauche) einen Zeitraum …, in dem die NVA so reformiert wird, dass sie Teil der einheitlichen deutschen Streitkräfte werden kann.« Hier legte einer eine andere Elle an die NVA als bisher in der Militärreform üblich.
Ich vermute, dass zu diesem Zeitpunkt Bahr in erster Linie Kosten und Nutzen analysierte. Eine kurze Überschlagsrechnung soll meine Vermutung bestätigen. Eine Startrampe einschließlich eines Raketentransporters kostete rund 26,7 Millionen Mark der DDR. Diese Technikeinheit verfügt über analoge Gefechtsmöglichkeiten in der Ostsee wie ein »Tarantul-1«. Jedes Raketenschiff dieses Typs kostete aber 77,1 Millionen Mark der DDR29. Damit ist der Raketenkomplex »Rubesh« um 60 Prozent billiger als sein schwimmendes Pendant. Dann gab es noch eine »MIG-29«, das moderne Fla-Raketensystem S-200 »WEGA« (NATO-Bez.: SA-5 GAMMON) und eine Reihe anderer interessanter NVA-Rüstungsstücke, die den Wehretat der Bundeswehr nach der Wiedervereinigung hätte senken können. Es fällt nicht schwer zu verstehen, dass damit auch Politik gemacht werden kann. Die SPD wollte damals keinen Eurofighter.
Um das Kapitel mit Egon Bahr abzuschließen, beziehe ich mich nochmals auf sein Interview mit »trend«, dem Nachfolgeblatt der »Volksarmee«. Auf die Frage, warum es nicht im Rahmen der schon längst eingesetzten Truppenreduzierung als gerechtfertigt und logisch angesehen werden kann, dass eine proportionale Verringerung angestrebt werde, antwortete Bahr wörtlich: »Sie (die Reduzierung, P.G.) wäre nicht nur logischer, sie wäre auch psychologisch richtig. Aber Sie dürfen sich darüber nicht wundern, dass viele Leute auf der Hardthöhe, nicht alle, aber viele, sagen: ›Wenn die uns das Problem abnehmen, indem sie sich selbst auflösen, ist es für uns am bequemsten.‹«
Eine dritte Etappe der Militärreform ab Mitte des Jahres 1990 gab es dann leider nicht mehr. Denn die Abschaffung der NVA kann man schwerlich als Reformmaßnahme bezeichnen.
28 – Theodor Hoffmann »Das letzte Kommando«, Mittler & Sohn S.38.
29 – H. Mehl, K. Schäfer, »Die andere deutsche Marine«, transpress, S.66.