“Eine Elite-Einheit der NVA rüstet ab” Vorwort zur 2. Ausgabe
Von heute auf morgen hatte Anfang 1991 mein berufliches Leben eine jähe Änderung erfahren und im Vordergrund stand nicht, die Vergangenheit in einem Buch zu verewigen. Das war zu dieser Zeit wahrhaftig nicht mein dringlichstes Anliegen. Um mich in der neuen, nun zivilen, Welt durchzusetzen, brauchte ich erstens einen Personalcomputer und zweitens Wissen und Fertigkeiten ihn nutzbringend zu verwenden. Denn bis dato war Computertechnik für mich persönlich ein Brief mit sieben Siegeln und gehörte damals noch lange nicht zu einem tagtäglich genutzten Arbeitsmittel, in der DDR noch weniger als im Westen Deutschlands. Ich besuchte aufbauend nach Feierabend verschiedene EDV-Grundlagenkurse und kaufte danach einen eigenen PC. Und so verband ich das Nutzbringende und in die Zukunft Weisende mit dem, was mir die Vergangenheit „beschert“ hatte. In den ersten zwei Jahren hatte ich nur den Wunsch, die Ereignisse, die mein Leben von Grund auf veränderten, in Textform festzuhalten. Ich stellte fest, wie schnell ich Namen, besondere Ereignisse und konkrete Zeitangaben vergessen hatte. Je mehr ich mich aber mit meiner Vergangenheit beschäftigte, desto klarer erinnerte ich mich, und ich lernte dabei wie eine Sekretärin, das Maschinenschreiben und herkömmliche PC-Anwenderprogramme zu nutzen.
Die NVA wurde in der Masse bis Ende 1990 aufgelöst. Die Reste in den darauffolgenden Monaten. Die deutsche Militärgeschichte kennt kein analoges Ereignis, dass ohne einen Blutstropfen eine ganze Armee beseitigt wurde. Im Einheitsrausch in Ost und West bekamen die wenigsten Menschen mit, dass über Nacht eine ganze Berufsgruppe aus Ostdeutschland verschwand. Die Bundeswehr kürzte ihren Personalbestand nicht einmal um zehn Prozent, versetzte aber ihre Soldaten sozial abgefedert in den Ruhestand. Von der NVA blieben hingegen nicht einmal zehn Prozent übrig – darunter kein General, kein Admiral. Und sozialverträglich war diese Aktion schon gar nicht.
Bei der NVA im Allgemeinen und beim Küstenraketenregiment-18 im Besonderen handelte es sich keineswegs um marode und desolate Institutionen. Ganz im Gegenteil, das Küstenraketenregiment-18 blieb bis August 1990 kampf- und einsatzbereit. Im September 1990 rüstete es Eppelmann bis unterhalb des kritischen Punktes vereinigungsreif ab. Nach der Übernahme durch die Bundeswehr wurde das Küstenraketenregiment wie die gesamte NVA innerhalb von wenigen Monaten endgültig abgewickelt. Darüber berichte ich in diesem Buch. Alles bewegliche Material der NVA, im Wert von 80 Milliarden DM1, verscherbelte man wie auf einem Flohmarkt, veräußerte oder verschrottete es einfach. An die ehemaligen Nutzer und Eigentümer dachte niemand. Selbst militärische Leckerbissen verkaufte oder verschenkte die Bundesrepublik Deutschland aus politischen, aus wirtschaftlichen und aus anderen Gründen an Verbündete oder interessierte Staaten, natürlich erst nach genauer Bewertung und Untersuchung der Waffen.
Kapitän zur See a.D. Walter Jablonsky, den ich heute einen Freund nenne, schreibt im Buch »NVA – Anspruch und Wirklichkeit«, dass die Volksmarine bedeutsame Stärken wie Schwächen hatte. Als Stärke wertete er das professionelle, einsatzbereite und kriegsnah denkende Offizierskorps, das hochentwickelte Selbst- und Leistungsbewußtsein, die zweckmäßige Organisation der schwimmenden Kräfte in Kampfgruppen, die hochentwickelte Fähigkeit zum Übergang Frieden/ Krieg mit den Elementen Gefechtsbereitschaft und Mobilmachungsfähigkeit, die große Beachtung, die man dem Zusammenwirken der Kräfte und Mittel auf allen Ebenen schenkte; das ausgefeilte Dezentralisierungssystem.2
Niemand von denen, die die Volksmarine auflösten, wollten diese positiven Seiten in eine gesamtdeutsche Marine einbringen. Für alle Beteiligten in Ost und West kam der Zusammenfall der DDR so überraschend, so dass über die nächste Zukunft keine Klarheit herrschte und die schnellstmögliche Auflösung der NVA dem deutschen Einigungsprozess eher dienlich war als das diese als nicht kalkulierbares Risiko vor sich hergeschoben wurde.
Auch die Lösung vieler rechtlicher Probleme in diesem Zusammenhang müssen heute einem, in vielen Fragen anzuzweifelnden und politisch gefärbten, Einigungsvertrag Rechnung getragen werden.
Die unvoreingenommene Sicht auf die Geschichte erfordert, dass man die Ereignisse so darstellt, wie sie sich tatsächlich zugetragen haben. Die Chronik der Auflösung des Küstenraketenregiments-18 ist ein Mosaikstein dazu. Als letzter Kommandeur habe ich sie aufgeschrieben. Erst dadurch beendete ich gedanklich und emotional ein wichtiges Kapitel meines Lebens.
Viele Angehörige des Küstenraketenregiments und der Volksmarine haben dieses Buch, welches nur in einer kleinen Auflage erschienen ist, im Laufe der letzten zehn Jahre erworben und gelesen. Es steht aber auch in vielen Bibliotheken von militärhistorisch interessierten Menschen sowie im Militärarchiv und anderen Institutionen. Tatsächlich hat das Buch Vielfältiges mehr bewirkt:
- Dieses Buch, dass die friedliche Auflösung eines Truppenteils, welcher symptomatisch für den einer ganze Armee steht, beschreibt das äußerst detailliert und aus ganz persönlicher Sicht.
- Das Buch war im Herbst 2002 Auslöser für die Aufnahme von Wartungsarbeiten und vielen Vorführungen in der Öffentlichkeit der letzten in Deutschland verbliebenen mobilen Startrampe des Küstenraketenregiments im Militärhistorischen Museum (MHM) Dresden.
- Drei Regimentstreffen und viele Zusammenkünfte im kleinen Kameradenkreis sind mit Veröffentlichung dieses Buches im Jahr 2000 und der über Jahre stattfindenden Aktivitäten im MHM in Zusammenhang zu bringen.
- Die Geschichte der Küstenraketenkräfte ist nicht nur die Geschichte seines Untergangs, wie sie hier in diesem Buch beschrieben wird. Ende 2012/ Anfang 2013 kommt ein höchst interessantes Werk über die „Küstenraketenkräfte der Volksmarine 1962-1991“ auf den Buchmarkt. Hier wird die Gesamtgeschichte dieser Waffengattung der VM durch ein ganzes Autorenkollektiv neu erzählt. Auch ein Fernsehfilm ist in Arbeit, der in DVD-Ausgabe einmalige und bisher unveröffentlichte Aufnahmen dokumentieren wird.
- Bei umfassenden Recherchen zu diesem Thema sind interessante Geheimhaltungs-Aspekte bekannt geworden. Obwohl die Bundeswehr und ihre Verbündeten vor 20 Jahren diese Bewaffnung als überholt und veraltet bezeichneten, studierten sie insgeheim bis ins Detail diese Kampftechnik und halten diese Studien und Analysen streng geheim und führen bis in die Gegenwart hinein, insbesondere an Infrarot- und anderen Technologien, Tests durch und klassifizieren auch 2011 immer noch dieses oder jenes System der Raketen als Kriegsgerät.
- Auch die Einbeziehung des Internets zur Aufarbeitung der Regimentsgeschichte auf der Homepage https://www.kuestenraketen.de lässt sich zweifelsohne auf die Veröffentlichung dieses Buches zurückführen. Sie stellt heute eine wesentliche Kommunikationsplattform der Angehörigen des Regiments und viele ihrer Sympathisanten dar.
Nun wurde der Zeitraum überschritten, in dem ich länger in der freien Wirtschaft tätig, als das ich Berufssoldat gewesen bin. Heute zwanzig Jahre danach kann ich einschätzen, dass mein erfolgreiches und ziviles Berufsleben in unterschiedlichen Logistikbranchen des Handels überwiegend meinem soldatischen Werdegang zu verdanken ist. Insbesondere möchte ich meine persönlichen Führungseigenschaften und meine solide militärische Ausbildung in der NVA anführen, die mich stets und sicher durch die unbekannten Gewässer der heutigen Welt geführt haben.
Worms, im Juli 2011
Klaus-Peter Gödde
1 – E. Bahr, »Zu meiner Zeit«, Karl Blessing Verlag, S.591 u. 590
2 – K. Naumann (Hrsg.), »NVA – Anspruch und Wirklichkeit«, Mittler & Sohn, S.165